Es ist Sonntagabend. Halloween und Finsternis herrschen vor den Kaffeehausfenstern. »Ich weiß nicht, was ich letzten Sommer getan habe. Außer dass ich mit Harry Krügerl getrunken habe. Der Wirt war unser Exorzist«, liest Dichter Andreas Plammer im Café Anno. Draußen auf der Lerchenfelderstraße ziehen die Geister hin und her. Es geht weiter mit »Friedhof der Kuscheltiere«, »Nur die Lämmer schweigen« und »Bier ist ein ganz besonderer Saft. Blut? Dafür fehlt uns jede Drakulanz.« Die orangegelben Wandlichter leuchten, Kunstplakate picken in dichten Schichten übereinander an den Wänden, der Raum ist dicht gedrängt mit jungen, literaturhungrigen Menschen. Es ist Halloween in Wien: »Trinken, bis der Arzt kommt, lallte Freddy. In drei Tagen bist du tot, sagte der Wirt. Ich bin der Antichrist, sagte Freddy. Ich bin müde, sagte der Wirt.«
Die Lesebühne »Noch Dichter« lud die Band Porcelain Hip, die Boy Group der vier Tenöre des Wiener Jüdischen Chors, ein, zum Thema »Trick or Treat« aufzutreten. »Electronic-Performance-Trash-Cabaret in porno-phonic symphonic surround sound«, stand in der Einladung. Doch noch hangelt sich ein Dichter mit Hut (Andi Pianka) an seinen Textzutaten zur »Mary Fekter Picture Show« entlang: »Da lachen ja die Hühner. Mein Hendl ist süß-sauer oder wurde es hinaus expertiert, weil es keine Aufenthaltsgenehmigung hat? Da werde ich sauer.« Alle kichern über die Grafik der grinsenden Hühner mit Zähnen im Schnabel. Und noch mehr über Mary Fekters Kopf mit leerem, schwarzem Schattenkinderwagen, so wie in »Rosemary’s Baby«. »Schenkt mir eure süßen Sozialleistungen, oh süße Jugend, sonst hole ich sie mir. Ich hole mir eure süßen Ideen über Veränderung der Welt und versaure sie euch.« Hier wird eine Sprache gepflegt, die sich ständig selber übertrifft, noch eins drauf setzt. Exakt gearbeitete Wortschwälle. Ein Wortwitz jagt den nächsten.
»Nun kommt eine kleine Boy Group zu uns, sehr sexy. Sie werden uns mit ihren Porzellanhüften beglücken. Klatscht sie ein!«, fordert Organisatorin Margerita die Dichter und Dichterinnen auf. Josh humpelt in kurzen Hosen, Lederjacke und Mütze herein: »I need my walking stick. Let’s stick together. We are the Austrian answer to Take That. Porcelain Hip featuring Dr. Mora.« Schön gruseliger, lauter Compi-Sound. »My mind is changing. Why does it change?« Getragenes, melodiöses, melancholisches Gesinge. Dr. Mora, eine Dame mit toupierter Frisur im weißen Arztkittel, zieht am Mikrokabel: »Ich weiß nicht, das Leben ist so schwer. Ich weiß nie, was ich tun soll«, singt sie in »broken German«: »Tai Chi oder Yoga, soll ich Hund oder Katze kaufen, soll ich zum Psychologen oder zum Psychiater gehen?« Dramatischer Chorus der vier Boys: »My mind is changing.« Tragischer Tonfall, pathetischer Sound. »Soll ich lieben oder hassen?«, fragt Dr. Mora. Alle lachen. »Yesterday I felt depressed, so I went out to meet a handsome stranger and undressed«, singt Josh. Die Schilderung geht weiter, aber wir wissen ja schon, was kommt. Na eben: »My mind is changing.«
Die Zuschauer klatschen zweimal zu früh, Joshua schaut streng. Und schon kommt der nächste Song. »Many, many years ago we used to be porno stars.« Man sieht die Boys von hinten, der kleine Peter und der große Georg strecken und dehnen sich lasziv in alle Richtungen, Tom zieht gekonnt seinen Pulli über den Kopf. Georg wackelt mit dem Hintern, Josh befingert seinen walking stick, die Doktorin darf auch mal. Peter hoppelt herum wie ein italienischer Gigolo: »We are, we are: The Porno Stars!« Teilweise schauen die Zuschauer betreten, an was denken die wohl bei Porno? Ich muss wieder so lachen wie in der Theaterproduktion »Pornokino«, bei der Peter nackt mit einem zweiten »Zwerg« in einer riesigen Lederhose steckend herum lief. Die Boys turnen herum, Peter benimmt sich wie ein Animateur im Club Méditeranée, inklusive breitem Grinsen, Kappe und Schmalzlocken.
Der nächste Song ist »Ladies Night«, oh what a night. Geklatsche vom Band, heftiges Gekicher von den hinteren Reihen. »Romantic ladies, sophisticated mamas«, singt Peter, auf große Opera und große Show mit italienischem Rrrr. Tom trifft den verschwörerischen Versprechenstonfall von Profi-Casanovas. Zwischenapplaus. Georg muss schon selber lachen. »Dieser Song ist dafür, wenn du denkst dass du ein Mann bist«, erklärt Josh, bevor er bei »You are only a boy, you think you are a man« seinen Synthi, der von selber spielt, mit weitausholenden Gesten schlägt. »You are not man enough to satisfy me.« Großes Kino. Die Vier heizen ihren Gastgebern ein und wirken sehr käuflich.