Steht eine verhüllte Gestalt mit dem Rücken zum Betrachter auf dem Dach einer schlichten, hölzernen Behausung, die in irgendwelchen wer weiß wie leicht oder schwer zugänglichen Wäldern steht. Old Saw klingen, wie das Cover ihres neuen Albums anmutet: unheimlich, und unheimlich schön. Aber was ist da los? Die Antwort gibt die Musik. Reich instrumentiert mit Banjo, verschiedenen Gitarren, Harmonium, Glöckchen, Orgel, Fiddle und noch manch zusätzlichem Gerät evozieren die instrumentalen Kompositionen einmal mehr Vorstellungen vom Old, Weird America, der geheimen Country-, Folk- und Blues-Musik, deren Traditionslinien zurückreichen bis in die Gründerzeit der USA. Der kulturkritische Konservatismus der musikalischen Wiederentdeckungs- und Bewahrungsbewegungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, von Harry Smiths »Anthology of Folk Music« über John Faheys »American Primitive«, das Folk-Revival der 1960er, Bob Dylans »Basement Tapes« und das dazugehörige Buch von Greil Marcus, dem der Slogan vom »Old, Weird America« entliehen ist, bis hin zur Ausrufung des »New Weird America« Mitte der 2000er stand und steht als Ausdruck einer sozialen Gesinnung – aller Traditionsverbundenheit zum Trotz – menschenverachtenden und -verletzenden Haltungen wie Rassismus, Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit ablehnend gegenüber. Das muss man vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Lage in den USA und dem, was weltweit der Fall ist, vielleicht wieder in Erinnerung rufen, bevor beim Blick auf die hinterwäldlerischen Posen von Henry Birdsey & Co. ein falscher Eindruck entsteht. Hinzu kommt, dass die Musik auf »The Wringing Cloth« auch dem Minimalismus und der experimentellen Musik verpflichtet ist. Einflussreiche Figuren wie Harry Partch, Harry Bertoia, Steve Reich und La Monte Young stehen ebenfalls im Hintergrund des musikalischen Treibens von Old Saw, die auf diese Weise erscheinen, wie die Nachfolger von Pelt, einem in ähnlicher Weise orientierten Americana-Drone-Ensemble, um das es leider in den letzten Jahren sehr ruhig geworden ist. Ja, lange Einleitung. Old Saw schleppen einen Haufen an Geschichte(n) mit sich herum. Es schadet nicht, diese Perspektiven im Blick zu haben, um zu begreifen, wovon die Musik handelt, die ohne Worte auskommt. In ihrer elegisch-meditativen Grundstimmung erinnert sie auch an den Soundtrack von Jim Jarmuschs Film »Dead Man«; ebenso ein nostalgisch gefärbter, trauender Kommentar zur amerikanischen Zivilisationsgeschichte und dem Verschwinden von alten Welten, die der Moderne und dem damit einhergehenden aggressiven Fortschritt zum Opfer gefallen sind. Angesichts dieses kulturhistorischen Panoramas und der gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen – was tun, außer sentimental Entwicklungen zu betrachten und zu beklagen, die ja doch nicht aufzuhalten waren oder sind? Ich weiß es auch nicht. Vielleicht den Glauben daran nicht verlieren, dass nicht alles vergebens war und die Zukunft nicht verloren ist. Möglicherweise variiert die Gestalt auf dem Dach Walter Benjamins Auffassung vom Engel der Geschichte: »Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.« Und Old Saw spielen die Musik dazu. So weit, so intellektualisierend. Herrje, es war gar nicht meine Absicht, all die überschießenden Gedanken und weit ausholenden Interpretationen in die Betrachtung zu »The Wringing Cloth« hineinzuholen, aber je länger ich darüber nachdenke, warum zum Geier Leute eigentlich Musik machen, umso mehr leuchtet mir ein, dass der Ausspruch »Wer nur was von Philosophie versteht, versteht auch davon nichts« genauso für die Auseinandersetzung mit Musik gilt. Das vielleicht noch dazu. Aber bevor ich mich noch weiter versteige, abschließend und vor dem Hintergrund all des laut Gedachten: »The Wringing Cloth«, eine unheimlich schöne Veröffentlichung.
Old Saw
»The Wringing Cloth«
Lobby Art Records
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