Dass Musik und Raum eng miteinander verknüpft sind, dass sich ein Chor im Keller anders anhört als im Stephansdom, ist soweit klar. Wie also werden die Räume bei Wien Modern 2023 im musikalischen Programm untergebracht? Für die Realisierung des Festivalkonzepts hat sich Wien Modern u. a. Peter Zumthor als Co-Kurator mit ins Boot geholt. Im Rahmen der Musikverein Perspektiven und anlässlich seines 80. Geburtstags lädt der renommierte Schweizer Architekt und Pritzker-Preisträger zusammen mit dem Musikverein Wien als Kurator und Gesprächspartner Komponist*innen, Musiker*innen und Performer*innen zu 13 Konzerten und acht Werkstattgesprächen ein.
Es gibt aber auch ganz andere spannende Brücken, die das mittlerweile zu einer Institution gewordene Festival für Neue Musik zwischen räumlicher und klanglicher Erfahrung schlägt. So sind unter den 36 Spielstätten in diesem Jahr auch Plätze des öffentlichen und halböffentlichen Raums. Erstmals dabei etwa die Opernpassage am Karlsplatz, der Stadtpark und die Brunnenpassage. Mehr darüber, wie uns Wien Modern den düsteren November aufhellt, indem es die in Nebelgrau getauchten Straßen mit Neuer Musik belebt, hier im Überblick.
Der Musik Raum geben und dem Raum Musik
Maria Gstättners Eröffnungsinszenierung ist ein ziemlich guter Ausgangspunkt, um zu verstehen, wie Wien Modern die Verbindung von Musik und Raum meint. Es geht nicht nur um den Raum als Resonanzkörper. Vielmehr sollen Bewegung und Gegenbewegung zwischen und innerhalb von Künstler*innen und Publikum aufgegriffen werden. Behandelt wird die Interaktion der Musizierenden mit dem Klang sowie die Aufführungssituation als Form der Interaktion. Darunter fallen diverse Aspekte, beispielsweise der Unterschied zwischen einem stehenden und einem sitzenden Publikum oder die Frage, ob ein Orchester im Graben sitzt, eine Band auf der Bühne, eine Blaskapelle auf dem Platz oder eine Künstlerin auf der Straße steht.
Ein wenig wie zum Biologieunterricht bei Schönwetter geht Gstättner zur Erkundung solcher Fragen mit Publikum und Künstler*innen am 31. Oktober raus in den Park. Die Komposition heißt »Fanfare allez ensemble« und bezieht neben Posaune (Harald Matjaschitz), der Mürztaler Trachtenkapelle Mitterdorf, Synthesizer und E-Gitarre (Martin Siewert) auch eine Lichtinstallation der einstigen Mathematik- und Bühnenbild-Studentin Victoria Coeln und eine dramaturgisch bearbeitete Performance von Brigitte Wilfing mit ein. Gemeinsam sollen sich Künstler*innen und Publikum vom äußeren Stadtpark aus in sein Inneres bewegen und dabei etwas »rituell Kollektives« erleben.
Um 18:00 Uhr nimmt die Performance am Rand des Stadtparks ihren Ausgangspunkt. Alle Interessierten können teilhaben oder zuschauen, bevor Peter Jakober um 19:00 Uhr mit der Uraufführung seines »Saitenraum II« das Wien Modern Festival in offiziellerem Rahmen eröffnet. Ganz ohne den herzerwärmenden Hinweis der Festivalorganisation, »dem Wetter angemessene Kleidung« vorzusehen, widmet sich »Saitenraum II« zwar weiterhin dem Thema Bewegung, betritt diesmal aber die Räume des an den Stadtpark angrenzenden Wiener Konzerthauses. Die Inszenierung verwandelt das klassische Konzert in einen begehbaren Ausstellungsraum der Musik. Das Publikum spaziert durch die Säle des Konzerthauses, in dem die Musiker*innen der Wiener Symphoniker, dank einer von Winfried Ritsch eigens entwickelten Software in verschiedenen Verbünden koordiniert, die Komposition Jakobers aufführen.
Neue Räumlichkeiten der Musik erkunden
Zurück im Freien wird Hannes Seidel am Wochenende des 4. und 5. November jeweils um 16:00 Uhr zusammen mit dem Berliner Ensemble MAM die »21 songs in a public surrounding« in einer Wiener Fassung aufführen. Auch hier übrigens wieder die herzerwärmende Fürsorglichkeit der Festivalorganisation: »Die Opernpassage Karlsplatz ist wenig beheizt, warme Kleidung wird empfohlen.« Wer es wärmer haben will, kann die Inszenierung an beiden Tagen noch einmal um 18:00 Uhr im Club-U am Karlsplatz bei freiem Eintritt sehen.
Einen anderen Zugang zur Musik in ihrer räumlichen Gestalt bietet die Co-Produktion der Brunnenpassage mit dem Polnischen Institut Wien und Wien Modern »Klangpassage – Different Lines« am 11. November zwischen 16:00 und 20:00 Uhr. Während blinde Menschen Geräusche und Klangvorstellungen in Haptik und Formen realisieren, orientieren sich Gehörlose an Formen und Farben. Dabei ergeben sich Partituren unterschiedlicher räumlicher Gestalt, die einen ganz anderen Zugang zu Klang und Musik offenbaren, als das beschränkte Schema abendländischer Notationssysteme es uns gewährt. In der Brunnenpassage werden diese »Different Lines« in der unmittelbaren musikalischen Interpretation der Workshop-Teilnehmenden entfaltet. Musikalische Vorkenntnisse sind nicht nötig.
Die Instrumente der etwas anderer Art kommen von Paweł Romańczuk, dessen Projekt »Małe Instrumenty«, also »Small Instruments«, bereits innerhalb der MIT Sounding Series in Cambridge gastiert hat. Kinder und Erwachsene können die Instrumente von Paweł Romańczuk außerdem in der Woche vom 12. bis zum 20. November im Dschungel Wien hören und ausprobieren. Auf dem Campus der Universität für darstellende Kunst wird es am 9. November um 18:00 Uhr dann ein Konzert auf Instrumenten geben, die innerhalb der seit 2021 andauernden Arbeit von »Małe Instrumenty« mit blinden und sehbehinderten Menschen unter dem Titel »Unsichtbare Instrumente« entstanden sind. Die Anmeldung hierfür läuft bis 6. November, der Eintritt ist frei.
Das Programm des 36. Wien Modern Festivals ist zu umfangreich, um es hier ganz auszubreiten: 57 Produktionen, 91 Konzerte sowie 20 Workshops und Gespräche werden von 31. Oktober bis 2. Dezember unter dem Titel »Go – Bewegung im Raum« organisiert und aufgeführt. Die Locations reichen vom Stephansdom bis zum Club Praterstraße und von der Opernpassage bis zur Brunnengasse. Der Festivalkalender, alle Spielstätten, Künstler*innen und Karten für die einzelnen Termine sind auf der Wien Modern Website zu finden.