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Nick Storring

»Mirante«

We Are Busy Bodies

Der kanadische Komponist Nick Storring erweist sich einmal mehr als detailverliebter Klangbildhauer. Das Album »Mirante« ist eine poetische Hommage an Brasilien, ohne Samba-Klischees oder Tropenseligkeit, eher ein Traum als ein Reisebericht. Brasilianische Idiome tauchen mit perkussiver Handschrift oder in harmonischen Wendungen auf, doch sie werden auf der Stelle verfremdet und in einen polyinstrumentalen Mikrokosmos transferiert. Storring spielt nahezu alles selbst: klassische Saiteninstrumente, Keyboards, Alltagsgegenstände, exotische Flöten, Spielzeuginstrumente. Hinzu kommen elektronische Tricksereien und Field Recordings aus São Paulo, Guarujá und Curitiba. Die orchestrale Dichte der Arrangements steht im Kontrast zur vermeintlichen Leichtigkeit vieler Klangquellen. Dabei entsteht eine lebendige akustische Topografie. Es flirrt und gurgelt durcheinander wie in einem tropischen Urwald. In der ersten Phase des Stückes »Parque Tingui« überlagern sich ein weich-warmes Synth-Pad und ein perlendes Glockenspielmotiv, dahinter hören wir die Geräusche einer nicht besonders stark befahrenen Straße: Die Grillen sind lauter als die wenigen vorbeifahrenden Autos. Das Stück wächst Schicht um Schicht an, wird zu einem sich gemächlich bewegenden Organismus. Im Vordergrund hören wir Rauschen in verschiedenen Farben, dahinter rhythmische Impulse. Der Track entfaltet sich in Wellen. »Parque Tingui« wirkt wie ein Spaziergang gemessenen Schrittes, bei dem sich die innere und äußere Welt überlagern: ein Windstoß durch Bambusrohre, eine vorbeiziehende Erinnerung. »Terra de Garoa« ist rhythmisch grundiert, aber nie metrisch gebunden. Im Gegenteil: Polyrhythmik dominiert den dichteren Teil ab etwa Minute 3. Immer gestützt durch Bassläufe, die sich gelegentlich mit schrägen Akkorden für einen halben Takt in den Vordergrund spielen dürfen. Das fast zehn Minuten lange »Roxa III« beginnt mit fetten, durigen Streichern, die von atonalen Windgeräuschen abgelöst werden (Storring bläst durch eine Trompete, ohne dabei einen Ton zu erzeugen), dann kommen wieder Streicher, aber verfremdet und in einer Fülle attraktiver Dissonanzen, bis allerlei Schlagwerk einsetzt. Der Fluss des Stückes wird immer wieder unterbrochen, der Künstler streut nachdenkliche, meditative Passagen ein, immer mit einer Mordslust auf möglichst viele unterschiedliche Sounds. Wir lauschen voller Neugier und Vorfreude auf das, was da alles auf uns zukommen mag. Auch Atempausen, in denen stille Träumereien die Verbindung von einer Fülle zur nächsten aufrechterhalten. Schnelle Bogenstriche auf einer Violine erinnern uns an Kolibris, Geklingel leitet über zur nächsten orchestralen Passage, behält die Oberhand, dann kommen Becken, die gestrichen und geschlagen werden, und schließlich tauchen Trommeln auf – in großer Vielfalt. Storring denkt Musik als Raum und Bewegung, als komplexes Miteinander von organischen, synthetischen, dokumentarischen und erfundenen Klangquellen. In einer Zeit, in der kulturelle Aneignung häufig unreflektiert geschieht, ist »Mirante« ein sensibler Gegenentwurf: kein Brasilien-Plagiat, sondern eine Klangminiatur der Begegnung.

Home / Rezensionen

Text
Sepp Wejwar

Veröffentlichung
17.06.2025

Schlagwörter

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