ABBA veröffentlichten im Jahr 1992 eine silberne Scheibe, die sie »ABBA Gold« nannten, und drauf waren alle Hits. Wer eine dieser Scheiben (die älteren werden sich erinnern, sie wurden »CDs« genannt) irgendwo herumliegen sah, sei es auf dem Tresen einer Kneipe oder auf dem Couchtisch einer WG, wusste, dass es Zeit war, das Haus zu verlassen. Insbesondere das Abspielen kombiniert mit dem berüchtigten »kommentierten ABBA-Tanz«, eine Spezialität der ABBA-Enthusiasmierten, die meinten, die Vorzüge der Songs müssten tanzend in Worte gefasst werden, waren nur schwer erträglich. Allerdings gehörte ABBA nie zu den eigentlich toxischen Popphänomenen. Als Großmeister wäre hier James Last zu nennen, der mit seiner Musik ein faszinierendes Phänomen beherrschte. Seine Werke sind in vielerlei Hinsicht denen von ABBA ähnlich, sie sind technisch ausgereift, sorgfältig arrangiert und übernehmen Formen avancierter Popmusik in zwar karikierender, aber zugegeben effektvoller Weise. Bei beiden ist das erbarmungslos verfolgte Ziel der Tanzanreiz. Den Text gleich ganz wegzulassen, ist im Lastschen Werk ein triviales Detail, bei so viel musikalischer Banalität kann nur mehr »Lala« gesungen werden. Last schaffte es allerdings, dass das Anhören seiner Musik den Eindruck erzeugt, etwas stimme mit der Musik an sich nicht. Nach zehn Minuten James Last beschleicht einen das Gefühl, es sei besser, nie mehr Musik zu hören, weil sich alle musikalischen Effekte als wert- und würdelos erweisen. Wer es geschafft hat, dauerhaft den Kram zu hören (es ist fraglich ob das jemals jemand gemacht hat, schließlich sind alle antiquarischen Platten in Mint-Condition), tat dies wohl, um einen inneren Abscheu gegen Musik auszuleben.
Zeige deine Wunden
Bei ABBA war das nicht so, denn anders als die Musik des Kapellmeisters Last, die leer wie ein ausgeblasenes Ei ist, findet sich etwas in der Musik der vier SchwedInnen: Not. Es wird zuweilen übersehen und nur selten kommentiert, dass viele ABBA-Songs von Zuständen der Psychopathologie handeln. Dies ist nicht nur eine extravagante Schnurre, sondern durch teils Jahre währende Sanatoriumsaufenthalte der Bandmitglieder als gelebte Realität verbürgt. Die Musikpresse kleidete dies mitunter in Formulierungen wie »Einsiedlertum«, was richtig »Zwangsausstieg« genannt werden sollte. Bekanntermaßen findet sich die überzeugendste Gegenwartsdiagnose auf den Krankenhausfluren und es sind ziemlich oft jene KünstlerInnen, die dort zeitweilig rumschlichen, die in der Lage sind, Phänomene eingehend zu beschreiben. Kostprobe gefällig? Der Text von »The Visitors«:
»I hear the doorbell ring and suddenly the panic takes me
The sound so ominously tearing through the silence
I cannot move, I’m standing
Numb and frozen
Among the things I love so dearly
The books, the paintings and the furniture
Help me«
Wir hören die Tür hinter uns ins Schloss fallen und denken: Caramba, hier liegt eine wirklich eigenwillige Verbindung vor, bei der vertröstende und letztlich verlogene Musik dennoch versucht, schwerwiegende Themen zu bearbeiten, was – dies muss als das wahre ABBA-Phänomen beschrieben werden – zudem auch irgendwie gelingt. Die Quizfrage, ob dies die größtmögliche Banalisierung menschlicher Verletzbarkeit darstellt oder als ernstzunehmender künstlerischer Versuch gewertet werden kann, existenzielle Not mit den Mitteln des Schlagerpops darzustellen, bitte im nächstgelegenen Poptheoriegesprächskreis erörtern.
ABBA ohne ABBA
Durch die eigenwillige Haltung der Band wurde überdies deutlich, wie (gut) der skandinavische Sozialstaat funktioniert. Auf dem Höhepunkt ihrer Prominenz waren sie nur insgesamt etwa drei Monate auf Tournee, obwohl die Konzerte damals einer Lizenz zum Gelddrucken gleichkamen. Aber die beiden Ehepaare hatten damals kleine Kinder und blieben somit lieber zu Hause. Auch nachdem sie bereits internationale Stars waren, musizierten sie zum Mitsommernachtsfest auf dem Campingplatz bei Freunden – das darf nun füglich Community genannt werden. Als ihnen nach Auflösung aberwitzige Beträge für eine Reunion-Tour geboten wurden (angeblich war von einer Milliarde Dollar die Rede), antworteten sie lakonisch, sie bräuchten das Geld nicht. Sie nahmen sich Zeit für ihre persönlichen Tragödien (»Knowing me, knowing you, […] breaking up is never easy I know, but I had to go«) und ließen sich scheiden.
Faszinierenderweise lebte ABBA ohne ABBA weiter und zeigte der Popwelt (die das nie begriff), wie unsinnig diese Identitätsvorstellungen sind. Im Grunde hat die Meute keine Lust, den Elton John des Jahres 2018 zu sehen und seinen Wandlungs- und Reifungsprozess zu erleben. Die Leute wollen den verrückten Vogel des Jahres 1971. Hätten die beiden gereiften Damen sich wieder in ihre Katzen-Glitter-Kostüme zwängen und die Herren sich ihren Björn-Borg-Kopfbehang wachsen lassen sollen? Nein, sie waren so schlau und delegierten dies. Ein lächerlich erfolgreiches Musical, das eine ebenso übergeschnappt erfolgreiche Verfilmung lieferte und dann das Meisterstück: Konzerttourneen mit Avataren. Während die Rolling Stones seit Jahrzehnten die Rolling-Stones-Coverband machen müssen, lassen die schlauen SchwedInnen Computerpixel für sich arbeiten.
Alles lief brillant, bis ihnen durch das Aufnehmen neuer Songs ein Fehler unterlief. Was immer sie da gebacken haben, es wird im Sturmwind falscher nostalgischer Erwartungen hinweggefegt werden. Hoffentlich schickt das niemanden zurück in die Klapse.
Link: https://abbasite.com/