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Morris Kolontyrsky

»Origination«

Projekt Records

Um es von vornherein klarzustellen: Diesem Ambient/Drone-Gitarrenalbum wird überdurchschnittlich viel Aufmerksamkeit zukommen, weil Morris Kolontyrsky Gitarrist von Blood Incantation ist. Die sind spätestens seit Oktober 2024 in aller Munde, als sie das Album »Absolute Elsewhere« veröffentlicht haben, mit dem sie weit über Szene- und Genregrenzen hinaus wahrgenommen wurden und sehr erfolgreich sind. Bei Blood Incantation ist der Blick über den Tellerrand Programm und Soloprojekte der einzelnen Bandmitglieder reichen stilistisch von Black Metal über Kosmische Musik bis zu Acoustic Fingerstyle Guitar und Ambient. Sie können machen, was sie wollen, und das machen sie. Aus Liebe zur Musik und mit einem Händchen dafür, die ganzen Sachen geschickt zu platzieren. So erscheint Kolontyrskys Soloalbum bei Projekt Records, wo auch Steve Roach veröffentlicht, der wiederum zum Album beigetragen hat. Man kennt sich, bekanntlich hat der amerikanische Ambient-Veteran ein paar Shows zusammen mit Blood Incantation gespielt. Und wo ein Ambient-Altmeister mitmischt, da findet sich schnell noch ein zweiter, und so kommt es, dass Robert Rich für das Mastering von »Origination« verantwortlich ist. Wie ich das hier so notiere, könnte man meinen, es wäre irgendwie anrüchig, solche Kontakte und Verbindungen anzuzapfen. Ist es aber gar nicht. Sicher, die Jungs wissen, wie sie das Spiel spielen müssen, aber sie sind auch Fans. Und Fans suchen die Nähe ihrer Idole, die ihnen Vorbilder sind – und eifern ihnen nach, mal mehr, mal weniger originell. Nüchtern betrachtet findet sich dieses generationenübergreifende Verhältnis in der DNA jedes kreativen Menschen. Die Creatio ex nihilo ist doch eher der künstlerische Sonderfall. Wir stehen alle auf den Schultern von Riesen. Dass Blood Incantation und im vorliegenden Fall Morris Kolontyrsky in dieser Hinsicht aus ihren Vorlieben und Inspirationsquellen keinen Hehl machen, finde ich sogar sehr erfreulich. Sie spielen mit relativ offenen Karten und stellen sich gar nicht erst hin, als hätten sie den musikalischen Kosmos, den sie bereisen, frisch kartografiert. Das kann man im Fall von »Origination« schon am ulkigen Künstlerporträt auf der CD-Rückseite erkennen, das an das Coverfoto von Manuel Götschings »Inventions for Electric Guitar« angelehnt ist. Und so kommen wir endlich zur Musik. 

Unter dem Eindruck einer Reihe experimenteller Gitarristen hat Morris Kolontyrsky sechs Titel für insgesamt 70 Minuten Musik eingespielt und Manuel Göttsching ist nur eines der Vorbilder, vor denen sich Kolontyrsky verneigt. Richard Pinhas kommt mir noch in den Sinn. Auch an Robert Fripps Frippertronics-Experimente, sein Album mit Brian Eno (»No Pussyfooting«) sowie Steve Hillage (»Rainbow Dome Musick«) oder Tangerine Dream (»Zeit«) muss ich denken (Edgar Froese war ja auch Gitarrist, zu Beginn von Tangerine Dream). Das zu erkennen, bedarf kaum Spürsinns, und Kolontyrsky weiß das nur zu gut (Wer gerne eine eher obskure Referenz zur Hand haben möchte: Auch an die NASA Voyager Recordings, veröffentlicht 1993 als »Symphonies of the Planets«, erinnert mich »Origination«). Man kann in der jüngeren Vergangenheit weitere mögliche Inspirationsquellen und Verbindungen zu vielen sehr ausdifferenzierten Szenen finden – die aber auf die gleichen Altvorderen verweisen: So haben zum Beispiel in den 2000er-Jahren ungezählt viele Acts aus dem amerikanischen, aber auch dem internationalen Noise- und Psychedelic-Underground Anleihen am Krautrock, an Kosmischer Musik und anderen Klangforschungsexperimenten früher elektronischer Musik (von der Musique concrète bis zum New Age) genommen. Ich denke hier an Bands und Projekte wie die Yellow Swans, Emeralds, Expo 70, Barn Owl, My Cat Is An Alien und viele, viele mehr. Ich möchte fast wetten, es wird sich in Morris’ Wohnzimmer mehr als ein Karton mit Tapes und CD-Rs auch aus diesen Szenen finden. Und es gibt, seit ich weiß nicht wie lange und im Nachgang zur Berliner Schule, ungezählt viele Ambient-Musiker*innen, wie zum Beispiel den kürzlich unter tragischen Umständen ums Leben gekommenen Matthias Grassow, die mit ihren Klangflächen sicherlich die Oberfläche mehrerer Jupitermonde bedecken könnten. Auch hier findet Kolontyrskys Musik Anschluss. So, was heißt das nun? Dass er keine eigenen Ideen hat? Nein. Natürlich nicht. Aber wenn man keine Affinität zu den von mir genannten Musiker*innen und Szenen hat, dann wird einen auch »Origination« nur wenig interessieren oder gar beeindrucken können. Aber wenn doch, dann gute Reise!

Home / Rezensionen

Text
Holger Adam

Veröffentlichung
25.09.2025

Schlagwörter

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