Eine der wenigen verbliebenen Verbindungslinien zur alten Heimat ist juristischer Natur: Fast 40 Jahre nach seiner ?bersiedlung in die USA besitzt Michael Mantler immer noch einen österreichischen Pass. Und das, trotzdem er im Land seiner Geburt niemals wirklich im kulturellen Bewusstsein verankert war. Einige Beispiele gefällig? Das ultimative, 1998 von Bernhard Günther herausgegebene »Lexikon zeitgenössischer Musik aus Üsterreich« schweigt sich über Mantler standhaft aus. Und als der Autor dieser Zeilen vor etwa einem Jahr – auf Ersuchen des Komponisten – bei diversen österreichischen Orchestern vorsichtig etwaiges Interesse an Aufführungen seiner Werke, insbesondere der im November 1998 vom Radio-Symphonieorchester Frankfurt unter Peter Rundel aus der Taufe gehobenen »One Symphony«, erkundete, stieß er auf ablehnende Ratlosigkeit: Warum solle man ausgerechnet einen gewissen Herrn Mantler spielen, wo doch der Repertoire-Schwerpunkt auf zeitgenössischen österreichischen Komponisten liege, antwortete sinngemäß etwa die Managerin des RSO Wien. Wie eine paradoxe Ironie mutet da der Umstand an, dass die letzten Werke des heute 56-jährigen, in St. Pölten aufgewachsenen Musikers von Kulturministerium bzw. BKA-Kunstsektion mit Arbeitsstipendien gefördert wurden – ohne in Üsterreich Aussicht auf klingende Realisierung zu haben.
Ich bin selten in Üsterreich, weil mir nie angeboten wird, hier zu sein – obwohl ich oft versucht habe, etwas anzukurbeln, äußert Mantler im Interview im Wiener MAK-Caf. Es passiert hier so viel, Festivals in Salzburg, Linz, Wien etc. mit Grenzüberschreitungen von Klassik und Jazz, Jazz und Klassik – ich aber höre nichts von den Veranstaltern. Und wenn ich sie anspreche, oder jemand anders, bleibt das ohne Reaktion. Ich würde gerne, ich sollte hier arbeiten. Es ist lächerlich, dass der österreichische Staat Geld dafür gibt, Musik zu schreiben, der dann die Aufführung verweigert wird.
Nicht einmal die aktuelle Crossover-Welle hat Mantler bislang stärkere Bühnenpräsenz beschert, obwohl nicht wenige seiner Projekte – trotzdem er selbst sich dagegen wohl sträuben würde – problemlos unter diesem Etikett vermarktbar wären: Etwa das Album »Something There« von 1982, aufgenommen unter Rekrutierung der Streicher des London Symphony Orchestra und prominenter improvisierender Solisten wie Mike Stern und Pink Floyd-Drummer Nick Mason. Oder die 1988 veröffentlichte Orchester-Produktion »Many Have No Speech« nach Texten von Samuel Beckett, Ernst Meister und Philippe Soupault, interpretiert von vokalen Magnifizenzen à la Marianne Faithfull, Jack Bruce und Robert Wyatt. Und im Prinzip auch das neueste Werk, die erwähnte, nun auf CD vorliegende »One Symphony«, Mantlers bislang konzertsaalkompatibelste Komposition: Ein knapp 40-minütiges Orchesterstück in – vordergründig – traditioneller Anlage, ein Stück »purer« Musik ohne programmatischen Hintergrund oder Inhalt, wie der Urheber betont. Vier Sätze, deren initiales, weitausladendes Hauptthema – im letzten Satz wiederaufgegriffen – einer Bruckner-Symphonie entstammen könnte, und die einen musikhistorischen Bogen von der Spätromantik Mahlers und des frühen Schönberg über Charles Ives bis hin zum Neoklassizismus und repetitiven Mallet-Schichtungen à la Steve Reich schlagen. Vier Sätze, die ein homogenes Ganzes bilden und in ihrer getragenen Elegie, in ihrem gedehntem Zeitempfinden nahtlos an das bisherige Schaffen Mantlers anknüpfen – und in denen doch ein neuer (End-)Punkt erreicht wird: Als erstes Opus seines Oeuvres ist »One Symphony« restlos auskomponiert. Worauf sich dieses etwas unerwartete Misstrauen in die Interpreten gründet? »Improvisation kann phantastisch sein, ist es aber meistens nicht. Weil sich Improvisatoren auch oft wiederholen. Irgendwie ist es eine Frage des Vertrauens, ich finde, es gibt nicht mehr so viele interessante Solisten, denen ich wie damals die Freiheit geben würde zu spielen, was auch immer sie spielen wollten. Die Improvisatoren waren so großartig, dass man das tun konnte. Ich höre heute einfach wenige, denen ich das zutrauen würde.«
Die Jazz-Vergangenheit
Vielleicht ist auch dieses damals, die Assoziation seines Namens mit Improvisation, Jazz, Free Jazz eine Bürde, an der Michael Mantler trägt – Bürde insofern, als er diesem stilistischen Rayon, dem er längst entwachsen ist, von vielen immer noch zugeordnet wird. Tatschlich ist Mantler neben Joe Zawinul der wahrscheinlich einzige Üsterreicher, der die Jazzgeschichte um einen allgemein anerkannten, eigenständigen Beitrag bereichert hat und deshalb in jedem ernstzunehmenden Jazzlexikon aufscheint. Man erinnere sich an das legendäre silbergraue Doppelalbum des stargespickten Jazz Composer’s Orchestra, das 1968 unter seiner Leitung entstand: Die darauf zu hörenden Kompositionen hatte Mantler den geladenen Solisten – u. a. Cecil Taylor, Don Cherry, Larry Coryell, Pharoah Sanders (Preview befindet sich auch im Repertoire von Christof Kurzmanns Orchester 33 1/3) – dermaßen perfekt auf den Leib geschneidert, dass deren berstende, überschäumende freie Improvisationsenergien in elektrisierender Weise stimuliert und dennoch in schlüssige Formen gegossen wurden – was so zuvor noch niemandem gelungen war und auch danach nur wenige (etwa Barry Guy) erreichten. Dabei war der Musiker, der diese 20 Männer und eine Ehefrau (Carla Bley) mittels teilweise graphisch notierter Partituren, die Einflüsse Messiaens und Vareses verarbeiteten, so sicher lenkte, zum Zeitpunkt der Aufnahme noch nicht einmal 25 Jahre alt! Und – als einer der wenigen Europer in der New Yorker Free-Jazz-Szene – doch schon eine respektierte Persönlichkeit. Kein Wunder, denn Mantler, der an der Wiener Musikakademie klassische Trompete studiert hatte, war im Herbst 1962 bereits 19-jährig ans Bostoner Berklee College of Music gekommen. Nach zwei Jahren eher informellen Unterrichts zog es ihn im Sommer 1964 nach New York, wo er – über eine Einladung des noch in Boston mit Pianist Lowell Davidson gegründeten Trios zur berühmten October Revolution in Jazz – binnen kürzester Zeit in die innersten Kreise der Improvisationsavantgarde vorstieß. Was folgte, ist fester Bestandteil der Musikgeschichte: Die Mitinitiierung der gewerkschaftsähnlichen, schon Mitte 1965 wieder aufgelösten Jazz Composer’s Guild, die Gründung des bereits genannten Jazz Composer’s (Guild) Orchestra (u. a. mit Archie Shepp, John Tchicai, Steve Lacy, Paul Bley, Roswell Rudd, Milford Graves als Mitgliedern) durch Mantler und Carla Bley und das rund einjährige Engagement als Trompeter in der Unit von Tasten-Genius Cecil Taylor 1965/66. Mit der erfolgreichen Wiederbelebung des Guild-Gedankens in Gestalt der Gründung der Jazz Composer’s Orchestra Association (JCOA) gemeinsam mit Bley, die er ein Jahr später, 1967, heiratete, begab sich Mantler endgültig auf eigene Pfade.
»Escalator Over The Hill« und die Folgen
Nach der historischen Leistung des Doppelalbums von 1968 klafft in der Diskographie Michael Mantlers ein Loch: Fünf Jahre sollten bis zur nächsten eigenen Platte vergehen, fünf Jahre, in denen sich Mantlers Ästhetik fundamental wandelte. Zu seltenen Auftritten mit dem JCO und Gastspielen etwa in Charlie Hadens Liberation Music Orchestra (1969) kam die Arbeit an der Association, die Mantler zu einer Art Agentur mit Verlag und Schallplattenlabel ausbaute (und die unter dem 1973 eingeführten Namen Watt Works noch immer existiert). Zudem war er als Aufnahmeleiter und Koordinator tief in das Entstehen von Carla Bleys Opus magnum, der 1972 fertiggestellten Oper »Escalator Over The Hill«, involviert.
Insbesondere letztere Tätigkeit prägte Mantlers eigenes musikalisches Weltbild nachhaltig: Mit Ausnahme von »13« (Konzert für Klavier und zwei Orchester, 1975) wurde die so erfolgreiche Linie der großorchestralen Komposition für frei improvisierende Solisten in den 1970er Jahren nicht mehr weiter verfolgt. »Es hat sich irgendwie erübrigt. Free Jazz war für mich als Interessensgebiet ausgeschöpft. Es war damals interessanter, Musiker zu engagieren, die vom Rock, Jazzrock herkamen, besonders die Gitarristen. The Cream interessierte mich, Jeff Beck, Jimi Hendrix. Auch Minimal Music war ein Bestandteil des aktuellen Musiklebens in dieser Zeit. Z. B. haben wir Teile des ??Escalator?? im Public Theatre eingespielt, und an unseren Off-Tagen, an denen wir den Raum nicht genutzt haben, hat Phil Glass dort seine ??Music in Twelve Parts?? aufgenommen. Wir waren sehr eng, Phil Glass, Steve Reich, wir kannten uns, wir arbeiteten alle in derselben Straße.«
Die Platte »No Answer« von 1973 veranschaulichte die Umorientierung Mantlers nachdrücklich und trug bereits viele wesentliche Charakteristika, die seine Arbeit bis heute kennzeichnen: Das orchestrale Klangdenken (trotz abgeschlankter Trio-Besetzung); die Bevorzugung tonaler Harmonik, die wesentlich von den immer wieder eingewobenen Minimal-Music-Pattern getragen wurde; zudem allgemein eine lyrische, elegische Grundstimmung, eine Verlangsamung des Zeitgefühls; und erstmals ein Vokalist: Carla Bley und Don Cherry sekundierten niemand Geringerem als Jack Bruce bei seiner Deklamation von Samuel Becketts Gedichten »Number Six« und »Number Twelve«. »Durch die Arbeit am ??Escalator?? kam sicher auch das Interesse an Stimmen. Es war nicht das Interesse an Texten, das zu den Vertonungen führte, sondern das an bestimmten Stimmen, solchen, die im Grunde vom Blues herkommen, die irgendwie imperfekt sind und Ausdruckstärke haben, wie eben die von Jack Bruce, Marianne Faithfull etc. Ich musste dann für sie etwas zum Singen finden, da ich absolut nicht an wortlosen Gesangsübungen interessiert war und bin. Die Texte mussten Klarheit besitzen, aber auch abstrakt genug sein, um für den Hörer eine gewisse Zweideutigkeit zu haben.«
In der Linie von »No Answer« gelangen Mantler in den folgenden Jahren einige seiner überzeugendsten Alben; das vielgelobte, Rock-orientierte »Hapless Child« von 1976, mit Robert Wyatt als Interpret der düsteren, aber auch humoristischen Erzählungen Edward Goreys, und die Retrospektive »Live« von 1987, wieder mit Jack Bruce, seien als Beispiele angeführt. Wobei auffiel, dass Mantler bevorzugt solche Vokalisten aus dem Progressive- und Art-Rock-Umfeld heranzog, die primär als Instrumentalisten bekannt waren: Neben den genannten etwa Don Preston und John Greaves, aber auch Carla Bley. »Ein Grund dafür ist, dass meiner Meinung nach die meisten Sänger nicht auch gute Musiker sind, vor allem die meisten Popsänger sind dies nur sehr beschränkt. Jack ist eine Ausnahme, er ist ein phantastischer Musiker mit einem ebensolchen Gehör und auch Komponist. Er versteht die Musik, kann sie singen und bringt dabei Eigenes ein – und er macht das sehr schnell, er liest sie beinahe vom Blatt. Robert Wyatt ist wiederum anders. Er ist natürlich auch einer, der viele verschiedene Arten von Musik schätzt und versteht – aber er kann keine Noten lesen. Und er lernt seine Parts trotzdem! Dank eines großartigen Gehörs und der vielen Zeit, die er dafür aufwendet.«
Die charakteristisch gedehnte, beinahe klagende Psalmodienhaftigkeit, in der die Gesangsparts zumeist angelegt sind, verstärkt zudem den existentiellen Pessimismus, ja, Defätismus, der sich auch inhaltlich durch viele Texte zieht, und der im Booklet von »Folly Seeing All This« (1992 u. a. mit dem Balanescu-Quartett eingespielt) sogar in einem etwas plakativen Word-Rap gipfelt: »advertising, aggression, aids, alcoholism, atom bombs, bad taste, big business, bigotry, bloodshed …« – alle ?bel dieser Welt werden hier aufgezählt. Brian Morton und Richard Cook veranlasste dieser grundlegende Aspekt Mantlerscher Musik in ihrem 1994 erschienenen »Penguin Guide To Jazz On CD, LP and Cassette« dazu, die boshafte Empfehlung auszugeben, Leute, die wegen Depressionen in Behandlung wären oder entsprechende Medikamente nähmen, mögen einen Arzt konsultieren, bevor sie eine dieser Platten kauften. Mantler nimmt’s – paradoxerweise – mit Humor: »Ich empfinde das als Kompliment. Nicht, dass ich mein Leben so führe oder so bin, aber das kommt eben durch die Musik raus, das ist im Grunde genommen wahrscheinlich das Gefühl über den allgemeinen Stand der Dinge. Ich bin immer ein Optimist mit absolut keiner Hoffnung! (Lacht.) Aber man macht trotzdem weiter, auch mit dem Gefühl, ja, Wissen, dass man über die Jahrzehnte, Jahrhunderte und -tausende absolut nichts gelernt hat. Wenn das so rüberkommt, wenn das jemanden so ergreift und angreift, dann ist die Musik in meinem Sinn erfolgreich.«
Rückkehr nach Europa
Seit 1991, nach der privaten und beruflichen Trennung von Carla Bley, lebt Michael Mantler wieder in Europa. Kopenhagen und ein Haus nahe dem südfranzösischen Avignon sind seine Domizile. Trotz eines neuen Plattenvertrags mit ECM, vielleicht auch aufgrund seiner bekannten Reserviertheit gegenüber Live-Auftritten ist es bislang ruhig um ihn geblieben. Die Hoffnung, mit dem 1993 in Kopenhagen gegründeten Chamber Music And Songs Ensemble wieder eine Tournee-Formation zur Verfügung zu haben, erwies sich als trügerisch. Eine der zahlreichen Aufnahmen dieser kammerorchesterartigen Formation findet sich immerhin auf dem neuen Tonträger, dem Hauptstück »One Symphony« wie ein Präludium vorangestellt: Mona Larsen interpretiert in englischer ?bersetzung Mantlers Liederzyklus nach Texten von Ernst Meister, den Jack Bruce auf »Many Have No Speech« bereits in Originalsprache eingesungen hat – vom Chamber Music and Songs Ensemble in Musik von typischer Mantlerscher Ätherik und Ruhe gehüllt, Musik, in der vor allem die reizvoll schillernden Mixturen von E-Gitarre- und Streicher-Klang aufhorchen lassen. »Songs and One Symphony« lautet folgerichtig der schlichte Titel der neuen CD. Vielleicht bedeutet die mediale Aufmerksamkeit im Zuge ihrer Veröffentlichung endlich jenen Publicity-Schub, den Mantler nötig hat. Zumal neben »Songs And One Symphony« auch die vergriffenen Alben »Something There« und »Alien« (Duo-Platte mit Don Preston am Synthesizer) neu aufgelegt und vier Produktionen aus den 1970er Jahren (darunter seltsamerweise nicht »Hapless Child«, Mantlers erklärte »Hit-Record«), erstmals auf CD erscheinen. Vielleicht ist jetzt die Zeit gekommen, um Michael Mantler, diesen Wanderer zwischen den Stilen und Kontinenten, zumindest in der Rezeption seiner Werke heimzuholen.
CD-Tipps
»Songs And One Symphony« (ECM)
»No Answer/Silence« (1974/77/WATT/ECM)
»Movies/More Movies« (1978/80/WATT/ECM)
»Something There« (1983/WATT/ECM)
»Alien« (1985/WATT/ECM)