Man fühlt sich wie in einen alten Klub der 1980er-Jahre versetzt. In Hamburg, Berlin oder Paris. Das erste Lied »Kleine Tiere« klingt wie die uralten Blümchen Blau, aus der Zeit der Familiy 5 oder von Bärchen und die Milchbubis, die alle auf meiner Blümchen-Blau-Kassette drauf sind. »Kleine Tiere nehmen mir den Schmerz«, singt Maren Rahmann in einer Mischung von Neue Deutsche Welle, die zweite, und Nina-Hagen-Manier. Dabei kennt sie Blümchen Blau überhaupt nicht! »Minderjährige Betrunkene erhalten keinen Alkohol«, steht auf einem Schild über der Bar. Darunter hat jemand einen Zettel angehängt: »Fuck Austria«. Im Venster, der alten Punkhütte unter den Wiener Stadtbahnbögen, herrscht Hochbetrieb. Die Punkband Deuforia aus Santiago de Chile verkauft Kassetten, die ungarische Punk Band K.j.N wartet auf ihren Auftritt. »Wir haben den Punk der Ingeborg Bachmann entdeckt«, sagt Sängerin Maren Rahmann von der Bühne herunter. »Der nächste Songtext stammt aus dem Buch ›Ich weiß eine bessere Welt!‹« »Keine! Keine bessere Welt!«, verbessert wer aus dem Publikum. »Oh ja, keine, stimmt. Ich wünsche sie mir so – die bessere Welt.« Laut Fragen heißt Marens und Didi Diskos Band.
Tote Winkel
Es folgen Lieder mit Gorillas drin, der »schlaflosen, verlorenen Zeit« oder der »Hetz, Hetz, Hetz«. »Lauf um dein Leben, setz die Ellbogen ein«, kritisiert den Kampf der Armen gegen die noch Ärmeren. Didi hüpft in die Höhe. Die beiden klingen immer nach mehr Musiker*innen auf der Bühne. »Jeder gegen jeden, lauf um dein Leben.« Alte Erinnerungen steigen hoch. Sieht dieser Techniker nicht aus wie der alte Bassist und Starkstromtechniker Rolli, sieht dieser Punk nicht aus wie der bereits verstorbene Gregor? Seltsamerweise stehen der chilenische und der ungarische Schlagzeuger genau links und rechts neben der Schlagzeugkritikerin. Das macht das Reden leicht. Interessant, dass Maren und Didi vor Punks auftreten möchten und dass ihr Auftritt bei den Punks so gut ankommt. Punks haben ja meist starke Meinungen und sind ganz schön kritisch.
Ein Text von Ingeborg Bachmann beschäftigt sich mit dem Thema Trinken: »Ich trinke meine Arbeit in mich hinein, trinke heraus, ich kann nur mehr trinken.« Es geht um »mich aus allem Heraustrinken«, eine selbstverlorene Attitüde. Ein Hardcore-Schlagzeuger wäre gut zu dem Lied. Mit einem kleinen Solo am Schluss? Ingeborg Bachmann verlor sich leider am Schluss selbst in Tabletten und, urschlimm und wie im Roman »Malina«, im Feuer. In einigen ihrer Bücher kämpft sie gegen Selbstverlust im Angesicht einer übermächtigen Person an. »Wir leben in den toten Winkeln. Aus der Zeit gefallen, nicht mehr modern«, höre ich. Maren Rahmann kämpft entschlossen gegen Selbstverlorenheit und Selbstverlust an. Selbstaufgabe. Gefährliches Punk-Leiden, durch das uns im Laufe der Jahrzehnte schon einige geliebte Punks viel zu früh verloren gingen. Die zweite oder dritte Generation nach dem Holocaust schreit sich im Punk die Verzweiflung von der Seele. In seiner Redskin-Band sei auch eine Frau mit Holocaust-Vorfahren dabei, erzählt mir der ungarische Schlagzeuger, der erst zum zweiten Mal mit der heute im Venster auftretenden Band spielt. Dann fällt ihm noch die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano ein, die er vor drei Jahren am Volksstimmefest sah.
Freie Radikale
»Nennen sich nicht mehr rechtsradikal, sondern patriotisch und national. Fragt sich nur, wo der Unterschied ist, gleiches Weltbild, derselbe Mist!«, singt Maren, ganz offensichtlich an die Regierung gerichtet. Fazit: Wir geben nicht auf! Dann: »Freie Radikale träumen lieber laut.« Ich muss ständig an die alten Blümchen-Blau-Songs denken: »Hallo liebe Kinder, hier spricht der Weihnachtsmann. Kinder! Oh, Kinder!« Auf drohend. Dann kommt ganz passend zu meinen Gedanken auch real im Venster die Kurve zum Weihnachtsmann: Das Fake-News-Lied. Über die »Nazikeule« und den »Nikolo, den sie uns schon umgebracht haben«. ANGST, ANGST, ANGST. Als Zugabe folgt dann Erich Mühsams »Sich fügen heißt lügen.« Oh ja.
»Wir verstehen nicht, was in Ungarn passiert«, sagt der coole K.j.N-Gitarrist in kariertem Hemd auf der Bühne. »This song is about the system.« Dann legen sie los. Klassischer Punk. Die Sängerin mit den langen Dreadlocks kreischt und schreit wie eine Wilde. (Bei meiner Punk-Band drehten die Punks ihre Verstärker auf lauter, wenn sie mich als Sängerin gut hören konnten. Damit ich schreien musste, nicht singen.) Der Schlagzeuger hängt leicht nach, passt genau auf, legt die Basis. Der hackelt wirklich und sich ab. Ein nervöser, ungarischer Punk zerrt die Zuhörer*innen nach vorne und gibt ständig Kommentare ab. Schreit viel zu früh: »Zugabe!«. »Es ist noch ned aus«, geht der österreichische Konter. Die urlangen Texte der Ungar*innen handeln von Betriebsbesetzungen und der Ausbeutung der Frauen in der Textilindustrie, erklärt mir Konzertveranstalter Gabor. Wow. Der chilenische Schlagzeuger spielt echt Hardhardcore, der führt sich auf. Wie kann der bitte diese schnellen Wirbel erzeugen? Mir spielt er fast zu viel. Die Chilenen werden in Novi Sad und Sofia auftreten, eine große Tour mit 22 Orten machen die. Ein Punk schaut dem legendären Dreck ähnlich, ein anderer dem Ägidigassen-Gustl, der einen Autobus entführte und vor seiner Haustüre anhalten ließ. Heute habe ich die Wiederkehr der Gespenster. Am Venster-Aus- und Eingang stehen vier Hackler aus Südtirol in ihrem Arbeitsgewand und trinken. Auf den Zuruf »Gitterbettsperre« hin lachen sie fröhlich. Wow.
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