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»Mad Mock Goth!«

Mark E. Smith, Gründer und alleiniger Vorstand des losen Moll-Punk-Konsortiums The Fall, gilt gemeinhin als einer der letzten Überlebenden des Punk. Während seine Fans zu wissen glauben, Smith hätte das erfunden, was wir heute retrospektiv gern als »Independent« bezeichnen, behaupten böse Zungen, er hätte nie etwas anderes erfunden als sich selbst. Wie dem auch sei: The Fall klangen immer nach The Fall. Ihre Live-Gigs sind seit jeher Pflicht, und sei es nur, um nachzuprüfen, ob der ältesten Punk-Qualle dieses Planeten zwischenzeitlich Tentakel gewachsen sind.

Zwischen Manchester und NYC
Salzburg, am 22. Juli 1995. Abschluss-Event des Sommer-Tanz-Festivals: Am Rande des beginnenden Festspielsommers geben die damals schon altgedienten The Fall aus Manchester ein Konzert in der Szene Salzburg.

Damals aktuelles Album: »Shift-Work«. Das wohl erste The-Fall-Album, das in mehr als eineinhalb Studiotagen eingespielt wurde, ließ unter Kritikern aufhorchen, erweckte es doch überraschend den Anschein, zumindest semi-professionell produziert zu sein, weshalb Bandleader und Mastermind Mark E. Smith dann auch in arge Bedrängnis geriet. In Interviews musste er sich immer wieder für sein »bourgoises« Verhalten entschuldigen: Wer sich derart beträchtliche Studiomieten leisten kann, macht sich im Weltbild des bekennenden Proletariers schon der Zugehörigkeit zum Establishment verdächtig. Dabei waren doch schon zuvor auf »Frenz Experiment« die schnarrenden Gitarren und scheppernden Becken zunehmend griffigen Arrangements mit Hit-Appeal gewichen. Aus Proto-Punk war gefälliger Gitarrenrock geworden, der im Kinks-Cover »Victoria« gipfelte. Pop-Alarm! »I’m in an bourgoise blues. Spread the news around.«

Und dann das: Mit »Edinburgh Man« verfügte »Shift Work« auch noch über einen veritablen Indie-Hit, der Smiths üblicherweise grantiges Nuscheln gefährlich nahe in Richtung Gesang rückte. Vergleiche mit dem damals gerade auf der Höhe der Zeit befindlichen Manchester-Pop (Happy Mondays) drängten sich so manchem Kritiker auf und versetzen Smith zusätzlich in Rage. Manchester? Sein größter Wunsch sei die Atombombe auf Manchester, ätzte er. Dabei war der Drang, die seit jeher in einem eigenartig referenzlosen System agierende Band in ein Korsett zu pressen, nur allzu verständlich, sucht die Industrie doch bis heute für die zyklische Wiederkehr des Dance-Pop zwischen Manchester und New York City nach den Vätern des Trends, um ein gefälliges Paket zu schnüren.

Nimmt man jedoch »Shift Work« – oder auch das unmittelbar darauffolgende »Code Selfish« – wirkt die dort zum Einsatz gebrachte Elektronik eher, als hätte sich jemand aus dem Mülleimer eines Setzkasten-Pop-Labors bedient und die gefundenen Wegwerf-Schnipsel eifertig zu einem Zufallsprodukt zusammengefügt. Von wegen bahnbrechend: Der Titeltrack »Shiftwork« klingt eher nach übelst kopiertem Synthie-Pop der frühen Achtziger und ist insofern fast zehn Jahre zu spät (oder zu früh). Dann wieder (»You haven’t found it yet«, »Rose«) entpuppt sich die Kombination aus halbakustischen Gitarren, repetitiven Punk-Elementen und erstmals bis hin zur Verständlichkeit ausproduzierter Stimme allerdings als durchaus reizvoll. Und trotz »Scheißegal«-Mentalität vermag Smith erstmals so etwas wie Pop-Appeal zu entfalten.

War against intelligence
Vielleicht ist es gerade deshalb exakt jene Periode Anfang der 90er, die von Kritikern wie Fans heute als eine der fruchtbarsten im Schaffen der Band bezeichnet wird. Jedenfalls müssen es diese oder ähnliche Überlegungen gewesen sein, die das Label »Fontana« erst vor etwa einem Jahr dazu bewegten, den Jahren 1990 bis 1992 mit einem eigenen Sampler Tribut zu zollen: »The War Against Intelligence«. Punk goes Pop, klammheimlich und ohne jeden Hintergedanken. Das kann eigentlich gar nicht oft genug betont werden.

Dennoch: Fusion bedeutet immer auch Konstruktion und konstruieren wollte Smith wahrlich nie etwas. »We are The Fall. Northern white crap that talks back«, bellt es einem erstaunten Publikum Ende der 70er Jahre zu Beginn der Live-Auftritte von der Bühne entgegen. Von Anbeginn an wollte Smith The Fall als einen aus dem Zivilisationsmüll einer im Aufbau gescheiterten Gesellschaft entstandenen Anti-Entwurf verstanden wissen. Dass man bei diesem Anti-Entwurf, für den die Trauben denkbar hoch hingen, zuweilen auch den Tanzboden streifte, war eher Zufall denn Absicht.

Auch Vergleiche mit New Yorker Dance-Punk-Kapellen wie Rapture, Radio 4 oder !!! sind, wenn auch nicht völlig aus der Luft gegriffen, so doch nicht ganz glücklich. Wenn überhaupt, dann lassen sich am ehesten im textlichen Bereich Parallelen feststellen: in der Vermittlung hermeneutischer Stimmungsbilder, in der Reduktion auf das Wesentliche und die Wiederholung dessen. Genuschelte Staatsfeindlichkeiten hier, gekreischte Haikus dort. Mitunter pflegt einen die Geschichte dann aber doch einzuholen: So am 25. November 2001. Da gaben The Fall und Rapture nämlich ein gemeinsames Konzert in der Knitting Factory in New York City. Dann also doch lieber Dance-Punk als Dance-Pop (siehe auch Gang Of Four und Manchester-Heroen wie Joy Division)!

Big Up The Hip Priest!
Zurück in die Festspielstadt: Auf den Festival-Pässen fand sich damals kein wie immer gearteter Vermerk, was denn das Publikum bei The Fall nun zu erwarten habe. Ein Gutteil der Besucher rechnet deshalb fest mit Tanztheater oder Performance-Kunst. Hauptsache pauschal. Das im Salzburgerischen allseits beliebte Jägerleinen überwog das Stimmungsbild. Nach den ersten Takten dann erstaunte Gesichter allerorts. Das kalkulierte Risiko nimmt seinen Lauf:

The Fall sind an diesem Abend härter und lauter denn je. Ein sichtlich schlecht gelaunter Sänger schreitet unbeteiligt über die Bühne. Als sei er selbst nicht Teil der Inszenierung, als bestehe seine Aufgabe nicht im Singen profaner Rockmusik, rezitiert er Lyrik von einem handgeschriebenem Blatt Papier. Indem er Gitarren abwechselnd auf- oder abdreht, dann überhaupt aussteckt, dem Schlagzeuger Becken abschraubt und hinter die Bühne wirft, sabotiert er zudem im Vorbeigehen die eigenen Musiker. Eine Horde englischer Studenten, die offenbar auf ihrem Österreich-Interrail-Trip durch ein Plakat mit dem Konterfei ihres Helden überrascht wurden, tanzt mittlerweile Pogo inmitten der Salzburger Schickeria. Punk wie er sein soll: Unerwartet hart, unerbittlich laut und trotz unverhohlener Arroganz nicht ohne Selbstironie. Mit einem Wort: groß!

Bend sinister
The Fall begannen 1977 in die Saiten zu greifen und sie nannten es von Anbeginn an Punk. Aus der Perspektive Smiths, der seine Vorbilder stets in der Literatur und nicht in der Musik suchte (»I don’t like musicians. I don’t hate them, but I do not associate with them. My mates know nothing about music«), war die Gründung unumgänglich. Hätte es da draußen auch nur eine einzige Band gegeben, deren Musik ich gemochte hätte, The Fall wäre nie gegründet worden, soll Smith einmal gesagt haben. Bei der Entdeckung der Band hatte wie so oft der erst neulich verstorbene Langzeitfan John Peel seine Hände im Spiel.

Der Legende nach soll Smith seine ersten Verse in den Pausen seines langweiligen Jobs als Büroangestellter im Hafen von Manchester geschrieben haben. Dazwischen liegen dreißig Jahre und eine schier unüberschaubare Menge an Alben, sturztrunkene Konzerte, bösartige Attacken gegen Roadies, Bandkollegen und Fotografen und wer sonst gerade nicht ins Konzept des bekennenden Perfektionisten passte. Auch Prügeleien auf der Bühne waren keine Seltenheit.

Manchmal ist man versucht zu glauben, weniger Mark E. Smiths Musik als seine Auffassung von Leben erinnere an Punk. In Wahrheit fehlte jegliche Querverbindung. Mit Ausnahme von Can bezog sich die Musik von The Fall auf nichts Vergangenes und selten bezogen sich andere Musiker auf sie. Kein Wunder: Kaum jemand verstand jemals den teils gezischten, teils geraunten Sprechgesang. Wenn schon: Mit Smith, seiner Arroganz, seiner eigenen Art Geschichten nicht zu erzählen, zu stottern und zu zischen und daraus weißen Müll-Rap zu formen, wurde der Punk um eine ganz wesentliche Dimension erweitert: das Mysterium.

Wie die gesichtslose Masse englischer Arbeitsloser und Gelegenheitstrinker, die sich vorzugsweise in der Fankurve eines Fußballstadions oder im Pub aufhält, war auch Smith nie politisch, eher gab er den desinteressierten Verlierer, der gleichzeitig gegen alles und jeden vorgehen will. Als notorischer Besserwisser und unverbesserlicher Trinker verlieh er dadurch all jenen, die ähnlich fühlten, eine Stimme, wogegen auch immer. Es war diese Grundhaltung, die ihn zu einem von ihnen machte, denn links im Sinne des politischen Klassenkampfes war Smith nie. Auch für Studenten und Intellektuelle machte er keine Ausnahme. Sie waren ihm stets ebenso verhasst wie Politiker. Nicht selten griff er auch Tony Blair unter der Gürtellinie an. Einmal sogar wegen dessen Beihilfe zur Verabschiedung eines restriktiven Waffengesetzes. Er habe schließlich ein Recht auf seine Waffe, ließ er über die Tagespresse ausrichten.

Je skurriler seine Wutausbrüche, je verwegener die Zurschaustellung des eigenen Narzissmus, desto beliebter wurde er in jenen eingeschworenen Fankreisen, die ihm auch die Treue hielten, als er in den Spätneunzigern zusehends den Boden unter den Füßen zu verlieren drohte. In einem Fan-Forum brachte ein Konzertbesucher dieses Phänomen einmal folgendermaßen auf den Punkt: »Smith war so betrunken, dass er während einer Nummer zusammenbrach und über drei Nummern hindurch nicht mehr aufstehen konnte, was ihn nicht daran hinderte, einfach im Liegen weiter zu machen. Es war wunderbar …«

The Real New Fall
12. 10. 2004: Anlässlich ihres beinahe dreißigjährigen Band-Jubiläums und zur Feier ihres offiziell 40. Albums haben sich The Fall in der Szene Wien eingefunden. Grund zum Feiern hat dabei in Wahrheit nur einer: Mark E. Smith, einzig verbliebenes Mitglied der Original-Besetzung einer Band, die wohl nur im übertragenen Sinne je als solche zu verstehen war. Wahre Mitstreiter, die den Entwurf in all seiner Konsequenz mittrugen und Smith auf seiner unendlich langen Wegstrecke in Richtung Auslöschung des eigenen Ichs begleiten wollten, fanden sich nur selten. Letztlich schieden auch sie ohne Ausnahme im Streit. Smith nahm’s gelassen.

Nach einigen schwächeren Werken hat Smith auf »The Real New Fall LP« wieder zu alter Stärke gefunden. Auf seinem neuestem Ouevre, das bizarrerweise zuerst in einer englischen und danach in einer längeren US-amerikanischen Fassung erschien, wobei beiden Versionen pikanterweise den Untertitel »Formerly Known as Country On The Click« tragen, weiß er mit alten Tugenden zu punkten: Harte Arbeit, trockene Monotonie, gebellte Parolen. Selten hasste jemand besser und folgerichtiger.

Schauplatz Szene Wien: Wie immer lässt der Chef auch an diesem Abend auf sich warten und schickt erst mal seine aktuelle Band, die wirkt, als habe sie das Abitur erst neulich hinter sich gebracht, vor. Nach ein paar Takten schaut schließlich auch Smith vorbei, zahnlos, sichtlich übelgelaunt, volltrunken. Bevor er das Publikum für wert befindet, einen seiner unverständlichen mehr zu sich selbst denn zur Menge geraunten Sätze zu vernehmen, kümmert er sich erst einmal aufreizend lange um die richtige Länge des Mikrofon-Ständers. Einen diensteifrig herbeieilenden Bühnenarbeiter trifft sein ganzer Abscheu. Er wird weggewunken wie lästiges Geschmeiß. Der Sound jedenfalls funktioniert druckvoll und präzise, als sei die Zeit Anfang der Neunziger einfach stehen geblieben.

Mad Mock Goth
Wer immer noch glaubt, das alles habe mehr mit Selbstinszenierung als mit Punk zu tun, der hat »Mad Mock Goth« – einen Track, der sich nur auf der amerikanischen Pressung des letzten Albums findet – noch nicht gehört. Smiths Aussage, er sei mit dieser Ausgabe des Albums weit zufriedener als mit der englischen, macht, hört man diese Nummer, zum ersten Mal Sinn. Einen derart räudigen Smith hörte man zuletzt Anfang der Achtziger während der Rough-Trade-Periode (»The Man Whose Head Expanded«, »Kicker Conspiracy« u.v.a.). Auch in der Szene Wien gerät »Mad Mock Goth« zum heimlichen Höhepunkt des Abends. Als Smith aus dem Bühnenabgang zu seinem persönlichen Glaubensbekenntnis an das monotone Rock-Nomadentum anhebt, wissen wir, dass es dieser unbarmherzige Mut zur Lücke ist, der uns immer wieder aufs Neue erstaunt und in seinen Bann zieht.

Jeder The-Fall-Song versucht, sowohl textlich als auch musikalisch dieses Abstreifen von Verzierung, verstanden als musikalischen Ausdruck sozialer Anpassung, aufs Neue zum Stil zu erheben, was uns in seinem edlen Scheitern Respekt abnötigt. Jedes noch so dilettantische Riff, jede noch so apokryphe Zeile atmet Unzufriedenheit und Auflehnung. In den besten Momenten entsteht so ein unwiderstehlicher Sog, dem man sich auch 2004 nur schwerlich entziehen kann. Die neue Platte, das jüngste Konzert, das alles könnte ebenso gut aus der Blütezeit des Punks stammen, so frisch, unverbraucht, aber auch austauschbar wirken die Hooks. Das war immer eine der unleugbaren Stärken und zugleich Schwächen dieser Band. The Fall klangen immer nach The Fall und niemandem anders und die meisten ihrer Songs könnten ebenso gut aus einer völlig anderen Schaffensperiode der Band stammen. Sogar die eingefleischtesten Fans würden im Blindtest versagen.

Nur in einigen Momenten merkt man, dass dem Gevatter Punk die Kraft ein wenig schwindet. Ein Gedicht wird ausgepackt, dann aber nicht verlesen. Gitarren werden nicht ausgesteckt, sondern nur leiser gedreht. Neigt sich da etwa die Revolte gegen die eigene Physis ihrem bitteren Ende entgegen? Keineswegs. Kaum auf Tour ist für Anfang Dezember auch schon das nächste Album angekündigt. Inzwischen können wir hartgesottenen Fans uns das Warten mit dem Best-of-Sampler »50.000 Fall-Fans can’t be wrong« versüßen. Best of The Fall? Ja, auch das soll es geben. Tocotronic-Bassist Jan Müller, selbst unverbesserlicher Hardcore-Fan des ebenso unverbesserlichen Grantlers, hat unter dem Pseudonym DJ Lolek in der Hamburger Tanzhalle einmal einen ganzen Abend lang The Fall aufgelegt. Auch dieses Best-of-Konzept der etwas anderen Art soll funktioniert haben, heißt es.

Dennoch stellt man sich bei jedem neuen Album von der The Fall neuerlich die ewig gleiche Frage: Ist das wirklich alles ernst gemeint? Ja, verdammt. Bierernst und todernst zugleich. Während der gesamten Dauer von »Mad Mock Goth«, das auf manchen Setlists auch als »Mod Mock Goth« aufscheint, hält Smith dem Publikum den Rücken zugewandt. Er duldet keine Verschwörung, schließlich sind heute die meisten Anwesenden tatsächlich »Mod Mock Goths«.

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Text
Markus Deisenberger

Veröffentlichung
09.10.2011

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