Foto © Amy-Beth Mcneely
Foto © Amy-Beth Mcneely

Lou Reeds kontroverses Meisterwerk

Lou Reed ist am 27.10.2013, 71-jährig verstorben.
Aus diesem Anlass haben wir einige skug-Texte zusammengestellt.
Roland Schönys Artikel wurde original in skug #80, 9--12/2009 publiziert.
Der Deal für Krems platzte damals leider, Lou Reed spielte nicht. Sein letztes Österreich-Konzert fand dafür 2012 beim Festival Lovely Days in Wiesen statt mit dem (recht offensichtlichen) Programm »From Velvet Underground to »Lulu««.

 


Manchen Produktionen scheint es einfach nicht zu gelingen, sich in ihrer Zeit einzurastern. Sie bleiben dazu verdammt, im abseits vorgeprägter Wahrnehmungsmuster zu verglühen, ohne adäquat rezipiert zu werden. Dies widerfuhr Lou Reeds nur auf E-Gitarren-Noise und Feedback-Sounds basierenden Album »Metal Machine Music« (»MMM«) von 1975.

Bis heute löst es höchst kontrovers geführte Diskussionen aus, sofern es überhaupt als Teil von Reeds Schaffens wahrgenommen wird. Die Fans des damals von seinem Zenit erstrahlenden »Rock’n’Roll Animal« reagierten auf dessen radikalen Bruch mit Songformat, Rhythmus und Melodie verstört bis entsetzt. KritikerInnen behandelten die Aufnahme wohlwollend distanziert bis komplett ablehnend. Der »Rolling Stone« leistete es sich sogar, »MMM« als schlechtestes Album des Jahres zu titulieren. Zugleich aber wurde es bereits wenig später als einer der konzeptuellen Ausgangspunkte für Industrial sowie als Vorläufer des New-York-Punk angesehen, während auch aus dem Kontext avancierter Klassik und Neuer Musik teils positive Resonanz kam.

Rezeption eines Klassikers
Relativ einfach lässt sich aus heutiger Sicht skizzieren, dass es angesichts der befremdlichen Kombination aus Rock’n’Roll-Inszenierung und Street-Background mit der kaum überbietbaren Radikalität des entkörperten und entrhythmisierten Sounds praktisch keine Möglichkeit zur diskursiven Verortung des Werks gab. Inhaltlich wäre es zwar naheliegend gewesen, »MMM« in das Koordinatensystem der akustischen Avantgarde einzuschreiben, aus dem Reflexionszusammenhang von Pop heraus schien genau das aber unpassend bis lächerlich. Hypothetisch lässt sich einerseits zwar annehmen, dass das auf nahezu monotonen Noise-Strömen und brummenden bis flirrenden Ûberlagerungen basierende Doppelalbum durch die enorme Popularität Lou Reeds verbunden mit seinem Vertrag bei RCA überhaupt erst wahrgenommen wurde. Immerhin sahnten RCA und Producer Steve Katz (Ex-Blood Sweat & Tears) mit den unmittelbar zuvor erschienen Platten »Sally Can’t Dance« und »Lou Reed Live« gemeinsam mit »Rock’n’Roll Animal« hinter dem Rücken Reeds derart ab, dass sie dem allmählich in die Drogenszene kippenden Exzentriker jegliche ästhetische Freiheit ließen, während dessen Arbeit wiederum permanent im Fokus rasant anwachsender Fankreise stand.
Umgekehrt jedoch dürfte genau derselbe — ausgerechnet — vom Rock-Business zunehmend frustrierte Reed, der an der East Side, 5.th Avenue, Downtown residierte, wo er seinen mit Trotz aufgeladenen Existentialismus kultivierte, genau aus diesem Grund höchst persönlich die bis heute bemerkenswerten Brüche in der Rezeption seines eigenen Opus verursacht haben. Hätte Reed nämlich Anstrengungen unternommen, seine Aufnahme wirklich ernsthaft öffentlich zu diskutieren, so hätte er nicht nur sein Rock-Image demontiert — was keineswegs seine Absicht war –, sondern er wäre schlicht und einfach auf die andere Seite gewechselt. Von Underground in Richtung Konzertsaal. Selbst wenn die Grenzen zwischen E und U in den USA weniger rigide verlaufen als in Europa, so existieren sie auf der Ebene von Marketing-Politik eben doch. Wie Lou-Reed-Biograph Viktor Bockris (»The Lou Reed Story«, 1995) beschreibt, hatten einige der Musikexperten bei RCA offenbar erkannt, was passiert war, und sogar vorgeschlagen, »MMM« auf dem klassischen — und exklusiv promoteten — Red-Seal-Label rauszubringen, was Reed angeblich mit der Begründung ablehnte, dies sei zu snobistisch.
Somit forcierte Reed durch sein überdrehtes Auftreten eine musikhistorisch schizoide Situation. Sofern die Recherchen von Viktor Bockris der Realität entsprechen, genoss er es zum einen, dass ihm eine ästhetische Attacke sondergleichen gegen das Publikum, gegen das Management und vor allem gegen Steve Katz, der ihn zunehmend anwiderte, gelungen war und lachte selbst über den »Mist«, den er den RCA-Leuten über die Tiefgründigkeit seines Konzepts aufgebunden hatte, während er gleichzeitig bei jeder Gelegenheit durchklingen ließ, dass ihm ein Meisterwerk gelungen sei.

Vorgeschichte und Aktualität
Reed deutete an, dass die Wurzeln des Werks unter anderem bei La Monte Young wie auch in experimentellen Velvet-Underground-Passagen oder Stücken wie »Loop« (1966) zu finden seien. Doch letztlich provozierte er eine Weichenstellung ins Nirgendwo, was gegenwärtig so weit führt, dass »MMM« in den neueren Aufarbeitungen zur Geschichte von Sound im Kontext der akustischen Avantgarde (Douglas Kahn: »Noise Water Meat«, 2001) oder zu Noise-Konzepten (Paul Hegarty: »Noise/Music«, 2007) keine Erwähnung findet, während sich Reed selbst mittlerweile — 30 Jahre später — offensiv zu seiner heute historischen Aufnahme bekennt. Eine Adaption führt er nun — nach der Entstehung des transkribierten Remake des Ensemble Zeitkratzer (2007) — im Trio gemeinsam mit Ulrich Krieger (tenor sax, live-electronics) und seinem aktuellen Mitmusiker Sarth Calhoun (live processing, fingerboard continuum) auf Initiative des Klangraum Krems und der Kuratoren des Festivals Kontraste (Jo Aichinger, Gottfried Hattinger und Matthias Osterwold) ebenda sowie in Breslau, Leipzig, Bern oder Berlin auf.
Die nahezu traumatisierte Vorgeschichte blieb deshalb unterbelichtet, weil »MMM« eine der höchsten Rücklaufraten der Schallplattengeschichte hatte und bereits nach wenigen Wochen vom Markt genommen wurde. Betrachtet in Relationen von Pop. Denn verkauft wurden zumindest 100.000 Stück in einer Phase, in der Lou Reed seine Bühnenauftritte unter der Headline von »Transformer« (1972) gerade mit einem Ûbermaß an Amphetaminen, Tequila und Jack Daniel’s komplett zerstörte. Dennoch strebte er die ihm eigene Präzision an. Reed mischte »MMM« sogar in Quadrophonie ab und verhinderte die automatische Abschaltung des Plattenspielers per lock groove, um die Vision der Dauer des Sounds zu betonen. Allein in seinem Studio erzeugte er mit unterschiedlich gestimmten Gitarren, Verstärkern und Lautsprechern jene Dynamik von Rückkopplungseffekten, in der Instrumente und Lautsprecher einander zunehmend unkontrolliert beeinflussen und Soundpakete in unterschiedlicher Tonhöhe hin und herschieben. Es schälen sich energetische Ströme aus dem Herzen zeitlupenhaft dahinströmender Feedbacks heraus. Ein spürbares Drängen in die äußersten Grenzbereiche elektrisch verstärkter Sounds führt in ein Terrain sich überlagernder Klangtexturen. Zum Zerreißen angespannte Rückkopplungstriebwerke und Glissandogeneratoren erzeugen unentwegt neue Verdichtungen. Anarchische Radikalität wird transformiert in fein ausdifferenzierte Intensität, wobei das Original höher gestimmt ist, als die Neubearbeitung durch das Metal Machine Trio.
Damals wie heute agierte Lou Reed in der Soundspur der sich in New York formierenden Musik-Avantgarde mit der er sich eingehend beschäftigte und deren Protagonisten er persönlich kannte. Den Namen für die Band Velvet Underground brachte Tony Conrad ein, der gerade das gleichnamiges Sado-Maso-Buch von Michael Leigh (1963) gelesen hatte. Nicht weit entfernt war La Monte Young, mit dem John Cale bereits vor Gründung der legendären Formation gearbeitet hatte, und dessen Idee einer Eternal Music, eines Soundkonzepts der Dauer ohne Anfang und ohne Ende als frühes Parallelformat zu Ambient. Innerhalb dieser Rahmung schaltete Reed — wie bereits im Kontext von Velvet Underground oftmals angedeutet — die Maschinen in Richtung Noise um. Damit steuerte er in den Nahbereich des italienischen Futurismus und dessen Soundprotagonisten Luigi Russolo, der in Manhattan über die Achse Marcel Duchamp, Edgar Varèse und John Cage rezipiert wurde, wobei John Cale mit letzterem ebenfalls zusammengearbeitet hatte.

Nachhaltig nach John Cage
Von all diesen Vordenkern her betrachtet war die Vision einer Befreiung der Klänge, die insbesondere in den 1960er Jahren auf die Ebene elektronischer Sounds transformiert wurde, eines der Kernthemen der Avantgarde in Manhattan. Einen ausufernden Event von historisch einzigartigem Umfang inszenierte John Cage 1966 sechs Tage lang in der Armory Hall an der Upper East Side gemeinsam mit zehn weiteren ProtagonistInnen wie dem Elektroniker David Tudor oder Persönlichkeiten wie Robert Rauschenberg, Yvonne Rainer, Deborah Hay oder Öyvind Fahlström sowie dreißig TechnikerInnen und WissenschafterInnen der Bell Telephone Laboratories (2008 auf DVD dokumentiert, E.A.T. and ARTPRIX). Das Ergebnis war ein maschinenartiger Soundmix mit Einspielungen aus verschiedenen Teilen New Yorks und der Welt.
Das auf die gesamte Szene umwälzend wirkende Soundereignis im größten überdachten Raum New Yorks wirkte über Jahre als Epizentrum für die akustische Avantgarde. Vor dieser Folie und dem Fokus auf die Down-Town- Netzwerke der KünstlerInnen und MusikerInnen lässt sich Lou Reed kaum noch als obsessiver Ausbruch unter Drogeneinfluss lesen, wie oft kolportiert wird, sondern vielmehr als integraler Bestandteil der Geschichte der Avantgarde.
Tatsächlich entfaltete das Album nachhaltige Wirkung im Dreieck von Pop, Neuer Musik und Gegenwartskunst. Also etwa auf Sonic Youth. Auf deren Album »Bad Moon Rising« (1985) enthalten sowohl »Brave Men Run (In My Family)« wie auch die radikal-kritische Nummer »Society Is A Hole« Samples aus Reeds legendärem Doppelalbum. Es gilt außerdem als ideelle Grundierung für Lee Ranaldos LP »From Here to Infinity«, die durchwegs auf der Basis von tape loops, feedback sounds und lock grooves gemixt wurde und dürfte somit genau den wissenschaftlichen Approach Ranaldos, der unentwegt mit neuen Transpositionen in seinem Kosmos der Gitarren-Saiten experimentiert.
Nicht nur metaphorisch rhizomorph, sondern auch real breitete sich »MMM« aus. 1999 etwa präsentierte der arabisch-amerikanische Künstler und Leiter der Kunsthalle Stuttgart, Fareed Armaly, das Album als Soundinstallation. Wie ein Kassiber hatte der Sound zuvor auf Schleichwegen Tokio erreicht, wo Masami Akita alias Merzbow seine Antennen ausgefahren hatte und seine erste Kassettenedition (1989) als Hommage an Lou Reed »Metal Acoustic Music« nannte. Die Botschaft war angekommen. Maskiert als Parallelform zu Industrial. In Form einer Vielzahl akustischer Bezugnahmen und Verweise lässt Merzbow Lou Reeds Werk in seinem eigenen Werk immer wieder als geheimnisvolle Signatur aufscheinen; erklingen als Zitat im Sound-Mix.
Mittlerweile längst abgeklärt wirft Lou Reed nun wieder die Maschinen an, um diesen signifikanten Teil seiner Geschichte live erklingen zu lassen. Streng überwacht das Management nun sämtliche Ankündigungen, die den Hinweis »strictly no songs« enthalten sollen. In der Minoritenkirche in Krems führt er »MMM« exakt an jenem Ort auf, an dem La Monte Young 1995 die Klänge seiner »Eternal Music« verströmte.

Home / Musik / Artikel

Text
Roland Schöny

Veröffentlichung
05.06.2013

Schlagwörter


favicon

Unterstütze uns mit deiner Spende

skug ist ein unabhängiges Non-Profit-Magazin. Unterstütze unsere journalistische Arbeit mit einer Spende an den Empfänger: Verein zur Förderung von Subkultur, Verwendungszweck: skug Spende, IBAN: AT80 1100 0034 8351 7300, BIC: BKAUATWW, Bank Austria. Vielen Dank!

Ähnliche Beiträge

Nach oben scrollen