Die 1945 in Chicago geborene und seit den späten 1960er-Jahren in New York lebende Laurie Spiegel gilt als eine der Pionierinnen der Computermusik, deren Schaffen außerhalb der USA bislang aber vergleichsweise unbekannt war. Durch die Wiederveröffentlichungen von »The Expanding Universe« und von »Unseen Worlds« wird diese Lücke nun geschlossen. Zum einen ist Spiegel Komponistin, zum anderen Programmiererin. Sie arbeitete mit dem Computermusikbegründer Max Mathews, dem Computervisionär Timothy Leary, dem E-Gitarren-Orchester-Minimalisten Rhys Chatham und der Klangkünstlerin Éliane Radigue, mit der sie sich an der Columbia University New York ein Studio teilte, das vom Komponisten Morton Subotnick mit Synthesizern von Don Buchla eingerichtet worden war. Im Fokus ihres Schaffens stehen interaktive Gestaltungsprozesse, die auf algorithmischen Logiken aufbauen. Sie schrieb zahlreiche Software-Programme, darunter »Music Mouse: An Intelligent Instrument«, das als eines der ersten Musikprogramme in Heimcomputer verbaut wurde. Andere Software-Programme dienten der Zusammenführung von Musik mit Video beziehungsweise der Visualisierung von Musik. Spiegel vertritt einen Kompositionsansatz, der von Melodie, Timbre und Klangfarben geprägt ist. Mit heutigen Ohren gehört, könnte man sie als Vorläufer der Ambient-Musik beschreiben. Und sie hat Stücke produziert, die aktueller Minimal-Techno sein könnten; nur eben Jahrzehnte früher.
Eine Kurz-»Doku«:
Komponieren und Programmieren
Einer der großen Verdienste dieser Neuauflage von »The Expanding Universe« ist, dass sie um ganze 15 Stücke aus der Zeit von 1974 bis 1980 erweitert wurde, wie etwa »Music for Dance« aus dem Jahr 1975. Diese zweiteilige Komposition war eine Auftragsarbeit der Künstlerin und Performerin Doris Chase für ihr Tanzvideo »Dance Eleven«. »Music for Dance« greift auf Programmierweisen zurück, die Spiegel gut ein Jahr vorher mit »Pentachrome« erstmals realisiert hatte und die in Zusammenarbeit mit Max Mathews entstand. Mathews hatte seit den späten 1950er-Jahren an Computerprogrammen zur Generierung von Musik geforscht und war Professor bei Bell Laboratories. Die in New Jersey beheimateten Bell Labs waren eine der führenden Forschungseinrichtungen für Telekommunikationstechnik und Informatik, wo unter anderem das Betriebssystem Unix, die Programmiersprache »C« und wichtige Ansätze zur mathematisch-technologischen Informationstheorie entwickelt wurden. Mathews’ Errungenschaften wurden später mit einer nach ihm benannten Software geehrt, die zu einem Standard für digitale Audioproduktion geworden ist, nämlich Max/MSP.
»Music For Dance I«:
Als Assistentin von Mathews arbeitete Laurie Spiegel ab 1973 sechs Jahre mit ihm an seinem Programm »GROOVE«, einem hybriden Analog-Digital-System. »GROOVE« steht für »Generated Real-time Output Operations on Voltage-controlled Equipment«, also in etwa: »Generative Echtzeit-Output-Operationen für spannungsgesteuerte Instrumente«. Als Programmiersprache wurde »Fortran« verwendet und die Programmierung erfolgte mit Lochkarten. Dieser raumfüllende, gut eine Tonne schwere Computer vom Modell CCC DDP-224, der auch als Flug- und Raumfahrt-Simulator verwendet und von einem externen Raum aus gesteuert wurde, hatte eine Speicherkapazität von 98 Kilobyte. Zum Vergleich: Aktuelle Smartphones haben bis zu 256 Gigabyte, also eine Sechser-Potenz mehr. Neu an diesem System war unter anderem, dass man unterschiedliche Informationsquellen einspeisen und sie miteinander verschalten konnte. »GROOVE« wurde für Spiegel zu einem ihrer wesentlichen Kompositionselemente, dazu kamen von Mathews entwickelte Filter und Equalizer. Ein weiteres Stück auf »The Expanding Universe« ist »Patchwork«. Diese zwischen 1974 und 1976 komponierte Nummer besteht aus vier melodischen Motiven und vier Rhythmusteilen, die in einer Art Multi-Track-Aufnahme unabhängig voneinander programmiert wurden. Aus heutiger Sicht könnte man an Krautrock-Bands wie Tangerine Dream mit Alben wie »Alpha Centauri« denken. Wobei, diese beschwingten Phrasen könnten auch von Kraftwerks »Autobahn« stammen. Mit dem Unterschied, dass hier nicht Synthesizer verwendet werden, sondern eben ein Computer. »Patchwork« ist auch ein gutes Beispiel dafür, dass Spiegel im Gegensatz zu ihren fast ausschließlich männlichen Kollegen nicht davor zurückschreckt, Melodien zu verwenden. Und es zeigt ihre Intentionen, Computermusik trotz oder wegen des wissenschaftlichen, beziehungsweise akademischen Umfelds genau nicht wie etwa Elektroakustik oder Musique concrète klingen zu lassen.
»Patchwork«:
Im Original war »The Expanding Universe« auf dem Label Philo erschienen und präsentiert Aufnahmen aus den Jahren, als Spiegel für Bell Labs tätig war. Dort entwickelte sie auch »VAMPIRE«; ausgeschrieben steht es für »Video and Music Program for Interactive Realtime Experimentation« und war eine digitale Schnittstelle für audiovisuelle Datenverarbeitung. In den ausführlichen Liner-Notes von »The Expanding Universe« schreibt Spiegel unter anderem über die prägenden Jahre bei Bell Labs. Es habe eine Aufbruchsstimmung geherrscht, in der man recht frei Grundlagenforschung betreiben konnte. Dieses innovative Klima habe sich dann durch marktwirtschaftliche Zwänge stark geändert. Zudem habe man als Frau in technischen Berufen wie der Informatik und den Computerwissenschaften Fuß fassen können, weil bis 1975 viele Männer im Vietnam-Krieg eingesetzt waren. Danach sei es wieder schwierig geworden, als Programmiererin ernst genommen zu werden. Parallel zu Bell Labs arbeitete Spiegel für »The Video and Television Review«, ein wöchentliches Format des New Yorker Senders WNET, in dem experimentelles Fernsehen ausgestrahlt wurde. Als »video artist in residence« gestaltete sie zahlreiche Videos und Soundtracks. Daran anschließend war sie für die Electronic Music Laboratories in Connecticut tätig und gründete dann an der Universität New York ein Studio für Computermusik. 2013 wurde sie mit dem Preis der Society for Electro-Acoustic Music in the United States ausgezeichnet und 2018 mit dem Preis der Foundation for Contemporary Arts.
Pulsationen
Eine der wohl bekanntesten Entwicklungen von Laurie Spiegel ist »Music Mouse: An Intelligent Instrument«. Das war eine Software, mit der man in Echtzeit komponieren und improvisieren konnte. Ursprünglich nur für den eigenen Gebrauch programmiert, wurde »Music Mouse« so populär, dass es ab 1986 in die Computer von Macintosh, Atari und Amiga eingebaut wurde. »Music Mouse« war eine der wahrscheinlich allerersten Musikbearbeitungs-Software für Heimanwender-Computer. Ganze elf Jahre nach ihrem Debüt brachte Spiegel »Unseen Worlds« heraus und verwendete dafür fast ausschließlich »Music Mouse«, mit dem ein Synthesizer und zwei digitale Signalprozessoren gesteuert wurden. Während »The Expanding Universe« einige Aufmerksamkeit erfuhr, hatte der Nachfolger das Problem, auf einem Label zu erscheinen, das kurz danach Konkurs anmelden musste, und das Album verschwand in der Versenkung. Kurz darauf gründete Spiegel ein eigenes Label, um die Veröffentlichung ihrer Platte voranzutreiben, aber auch diese Versuche erwiesen sich als wenig erfolgreich. Die vom Label Unseen Worlds Records herausgebrachte Version präsentiert nun dieses Album zum ersten Mal als reguläre CD- und Vinyl-Veröffentlichung. Inspiriert wurde der Name dieses New Yorker, auf elektronische Experimental- und Avantgarde-Musik spezialisierten Labels übrigens von Spiegels gleichnamiger Platte. Und auch die Re-Release von »The Expanding Universe« ist eine späte, schließlich adäquate Würdigung, weil auf Philo hauptsächlich US-amerikanische Folklore-Musik herausgekommen war.
»Drums«:
Während »The Expanding Universe« digital prozessierte Melodien und Rhythmen erforscht, basiert »Unseen Worlds« auf Pulsationen und atmosphärischen Texturen. Auch hier sind einige mehrteilige Kompositionen zu finden und das Album gliedert sich in drei Kategorien, eine ist überschrieben mit »Thesis – Exploration and Intuition. Nine Improvisations«. Neben der Trilogie »Three Sonic Spaces« ist »Riding the Storm« ein weiteres Stück dieser Kategorie. Diese weitausladenden Sound-Landschaften lassen fast unweigerlich an die Ambient-Musik etwa von Brian Eno oder an aktuelle Klangkunstproduktionen denken. Das sind aber am ehesten zufällige Überschneidungen, denn Spiegels musikalische Sozialisation und ihre bis heute verfolgten Interessen liegen nicht in der Elektroakustik oder der Experimentalelektronik. Prägende Einflüsse waren der Improvisationsgitarrist John Fahey, amerikanische Folk-Musik, der Komponist Aaron Copland und besonders Johann Sebastian Bach. Im Alter von sechs Jahren begann sie, Gitarre, Mandoline und Banjo zu spielen. 1967 schloss sie ein Studium der Sozialwissenschaften ab. Dann folgten Studien für Komposition und Gitarre in London und in der Folge entstanden erste Stücke für klassische Gitarre.
»Riding The Storm«:
Ab 1969 befasste sie sich mit Synthesizern und besonders mit den modularen Systemen von Buchla. Schon bald aber war sie von diesen Maschinen frustriert: Sie hatten keine Speichermöglichkeiten, waren klanglich instabil und außerdem suchte Spiegel nach Alternativen zu traditionellen Notationen. All das war mit Computern lösbar: Sie hatten Speicherkapazitäten, durch Spiegels Entwicklungen wurden sie als Instrument spielbar und sie entwarf ein Interface zur Visualisierung von Klängen. 1975 schloss sie ein Kompositionsstudium am Brooklyn College ab. In den 1980ern brach sie mit der New Yorker Experimental- und Elektronikmusikszene, weil sie ihr zu techniklastig geworden war. Laurie Spiegel ging es immer darum, dass Computer und Software-Programme so genutzt werden können, dass sie Spontanität und Intuition ermöglichen. Man würde ihr Werk diskreditieren, sie in ein Esoterikeck stellen, nur weil sie sich intensiv mit den mehr oder weniger imaginären Klängen des Weltraums auseinandersetzt, die oft fälschlicherweise als New-Age-Musik gelabelt wurden. Im Gegensatz dazu lässt eine Nummer wie »Riding the Storm« aus »Unseen Worlds« an einen Sonnensturm denken, der zwischen den Planeten hindurchbraust.
Planetenschwingungen
Kommen wir wieder zu »The Expanding Universe« und in das Jahr 1977. Eines Tages läutete Spiegels Telefon und die Person am anderen Ende der Leitung stellte sich als ein Mitarbeiter der NASA vor. Man wolle eine Sonde in den Weltraum schicken, um das äußere Planetensystem zu erforschen. Man sei dabei, eine Datenplatte mit Bild-, Sprach- und Musikaufnahmen zusammenzustellen, um potenzielle außerirdische Lebensformen über die Erde zu informieren. Sie habe doch ein Stück über die Harmonien der Planeten; Kepler und so. Spiegel hielt das für einen Scherzanruf und willigte erst ein, als ihr eine schriftliche Anfrage des NASA-Projektleiters, des Astronomen Carl Sagen, vorlag. Tatsächlich starteten im Sommer 1977 im Rahmen des Voyager-Programms zwei Sonden, die die »Voyager Golden Record«-Datenplatte an Bord hatten, die der Kommunikationsaufnahme mit Außerirdischen dienen sollte.
Ein Interview von 1984 – 1:
Spiegels Stück »Kepler’s Harmony of the Worlds« bezieht sich auf Johannes Keplers »Harmonia Mundi«. In diesem Werk formulierte er 1619 das später nach ihm benannte »Dritte Kepler’sche Gesetz« und ging davon aus, dass die Planeten in harmonischen Verhältnissen zueinander stehen. Daraus lasse sich eine universelle Harmonie der Sphärenmusik ableiten. »Kepler’s Harmony of the Worlds« ist eine klangliche Auseinandersetzung mit Keplers astronomischen Daten, für die Spiegel mit dem »GROOVE«-System arbeitete. Jede Frequenz stellt einen zur Zeit Keplers bekannten Planeten dar; die höchste Frequenz repräsentiert Merkur, die tiefste Jupiter. Interessanterweise war »Kepler’s Harmony of the Worlds« nicht in der Musiksektion enthalten, sondern in jener für Geräusche mit Aufnahmen von Tieren, Menschen und der Natur. Mittlerweile befinden sich die Sonden im interstellaren Raum. Die »Voyager Golden Record« ist eine Platte für die Ewigkeit: Der NASA zufolge hat sie eine Lebensdauer von 500 Millionen Jahren. Dieses etwas mehr als zehnminütige Stück wurde 2003 unter dem Titel »Harmonices Mundi« auf dem Label Table of the Elements als Vinyl-Picture-Disc neu aufgelegt.
Ein Interview von 1984 – 2:
https://www.youtube.com/watch?v=YIiYyvlDxAo
Folk-Musik und Prä-Techno
Auf »The Expanding Universe« finden sich die vielleicht bekanntesten Stücke Spiegels. Bei »Appalachian Grove« und bei »Drums« kann man ohne weiteres sagen: Ambient- beziehungsweise Minimal-Techno avant la lettre. In beiden geht es um digital prozessierte Interpretationen traditioneller Rhythmusstrukturen. »Appalachian Grove« ist eine dreiteilige Komposition und entstand im Juni 1974. Zu dieser Zeit war Spiegel auch für das Institute for Studies in American Music tätig und machte Field-Recordings in den Blue Ridge Mountains zur Musik der dortigen indigenen Völker der Irokesen und der Shawnee. Diese Berge sind Teil der Appalachen, einem Gebirgssystem an der amerikanischen Ostküste. »Appalachian Grove I–III« ist eine ihrer ersten, rein computerbasierten Arbeiten, bei denen zudem erste Versuche einer interaktiven Musikproduktion in Echtzeit erprobt wurden.
Gut ein halbes Jahr später stellte Spiegel »Drums« fertig, das ebenfalls unter den Eindrücken ihrer Feldforschungen in den Blue Ridge Mountains entstanden war. In den Liner-Notes von »The Expanding Universe« schreibt Spiegel: »Das 1975 komponierte, polyrhythmische Stück ›Drums‹ reflektiert mein Interesse an afrikanischer und an indianischer Musik. Ich stellte mehrere Kanäle her, die von spannungsgesteuerten Pulsationen kontrolliert werden, und verband diese Pulsations-Outputs mit vier analogen Resonanz-Filtern. Als Basis diente eine Variante des von Mathews entwickelten Systems ›GROOVE‹, mit dem auch Stücke wie ›Patchwork‹ komponiert wurden.« Man könnte bei »Drums« an die Band Silver Apples denken, die wie Spiegel in den späten 1960ern Teil der New Yorker Experimentalmusik-Szene waren und auf »Dancing Gods« – einer Nummer aus ihrem Debütalbum »Silver Apples« (1968) – eine Zeremonie der Navajos mit elektronischen Mitteln umsetzten. Oder an »Pulsers« des Komponisten David Tudor von 1976. Auf jeden Fall ist »Drums« ein ideales Anschauungsbeispiel, wie sich mit dem Computer variantenreiche Rhythmusverschiebungen produzieren lassen.
Übergänge
Von diesen rituellen Trommeln – nicht umsonst ist für Spiegel Computermusik eine Folk-Musik in aktualisierten Produktionsbedingungen – zu »Unseen Worlds«: Schon der Name des Albums legt nahe, dass es wie bei »The Expanding Universe« um klangliche Grenzerfahrungen geht. »Unseen Worlds« ist in die drei Abschnitte »Thesis«, »Anti-Thesis« und »Synthesis« gegliedert, wobei »Synthesis« für Form und Inhalt steht. Hier findet sich nur ein Stück, das fast fünfzehnminütige »Passage«. Im Begleittext beschreibt Spiegel »Passage« als eine Auseinandersetzung mit der expressiven Kraft von Textur, Timbre und Resonanz. Harmonische, melodische oder kontrapunktische Gestaltungen blieben auf ein Minimum beschränkt. Diese Nummer ist eines ihrer ersten, mit der »Music Mouse«-Software realisierten Stücke. Die Premiere von »Passage« fand 1987 auf dem Festival New Music America statt und die auf »Unseen Worlds« zu hörende Aufnahme ist der Mitschnitt dieser Live-Präsentation.
»Passage«:
Hervorzuheben ist, dass die Neuauflage von »The Expanding Universe« um 15 Stücke erweitert wurde und »Unseen Worlds« zum ersten Mal regulär erhältlich ist. Sämtliche Stücke wurden von Rashad Becker neu abgemischt. Hinsichtlich Plattenveröffentlichungen war es bis dahin sehr ruhig um Spiegel. 2001 erschien mit »Obsolete Systems« eine Zusammenstellung ihrer Kompositionen für Buchla-Synthesizer und für Computer aus den Jahren 1970 bis 1983. Danach verlegte sie sich vor allem auf wissenschaftliches Arbeiten sowie die Entwicklung von Software und schrieb an die zwanzig Werke für Saiteninstrumente, Klavier und Elektronik. Umso eindrücklicher sind diese Re-Releases also, weil sie uns detaillierte Einblicke in das Schaffen Laurie Spiegels und somit in die Frühzeit der Computermusik geben.
Laurie Spiegels Alben »The Expanding Universe« (orig. 1980) und »Unseen Worlds« (orig. 1991) sind im Jänner 2019 als Vinyl- sowie CD-Veröffentlichungen von Unseen Worlds Records neu aufgelegt worden.
Links: http://retiary.org
https://www.unseenworlds.com
Dieser Text ist eine adaptierte Fassung des Manuskripts für den gleichnamigen »Zeit-Ton«, der Mitte Mai 2019 auf Ö1 ausgestrahlt wurde: https://oe1.orf.at/zeitton