© Frank Jödicke
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Kunst in Zeiten der Verzweiflung

Mit der raumfüllenden Installation »Gazakino« versucht Gue Schmidt, ein Bild für das Grauen des wechselseitigen Mordens in Israel und Palästina zu finden, das die allgemeine Abstumpfung gegenüber dem medial vermittelten Leid überwindet.

Zu Beginn von Robert Bressons Film »Au hasard Balthazar« herzen Kinder einen jungen Esel. Sie begrüßen das Tier im Leben mit einer improvisierten Taufe. Wie konnten ihre Eltern dies vergessen? Ist der Esel Balthazar nicht einer von ihnen? Muss seine Geburt nicht gefeiert werden, so wie es die Kinder tun? Die bewiesene Liebe und Verbundenheit gegenüber der Kreatur lösen sich im Leben des Tieres nicht ein. Es wird misshandelt und letztlich von einer Schmugglerbande eingesetzt. Am Ende stirbt Balthazar durch die Schüsse von Soldaten und bricht inmitten einer Schafherde tot zusammen. Die Fähigkeit, in den Qualen der Tiere unser eigenes Leid erkennen zu können, findet sich in der Mitleidsethik des Arthur Schopenhauer. Das anthropologische Faktum, dass wir mitempfinden, wenn wir das Leid eines fremden Wesens erkennen, obwohl wir nicht annehmen dürfen, dass ein Tier gleiches gegenüber uns empfindet, ist eine urmenschliche Regung. Sie ist schön. Wir dürfen sie uns als Menschheit zugutehalten und zurecht beklagen, wenn sie abgestumpft ist. 

Ein sterbender Esel 

Der palästinensische Fotojournalist Anas al-Shareef hat die Trümmer des Flüchtlingslagers Dschabalija fotografiert. Inmitten der bis auf die Grundmauern zerstörten Häuser und der mit Schutt überhäuften Straße findet sich keine Menschenseele mehr. Einzig ein sterbender Esel blickt ins Kameraauge. Er hat seine blutenden Gliedmaßen an sich herangezogen und kauert in den Trümmern. Tiere machen so etwas, wenn sie sterben. Die kleinen Käferchen ebenso wie die sterbenden Löwen. Sie ziehen sich zusammen, als wollten sie die letzten Energien in ihrem Inneren bewahren. Gue Schmidt hat das Foto von Anas al-Shareef auf eine mehrere Quadratmeter große Leinwand aufgezogen. Wer den Projektraum Mag3 im 2. Bezirk in Wien betritt, blickt sogleich dem sterbenden Esel ins Angesicht. 

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Hinter der Leinwand sind vier Diaprojektoren an der Wand angebracht. Ihr ununterbrochenes Klackern erinnert an das Laden von Gewehren. Sie projizieren Fotogramme an die gegenüberliegende Wand mit den verschlossenen Fenstern und Türen des Galerienraums. Die projizierten Dias bestehen aus schwarzen Balken. So entsteht ein Lichtspiel auf der Wand. Mal scheinen Fenster und Türen weit offen zu klaffen und den Blick in ein schwarzes Nichts zu öffnen, mal scheinen sie verrammelt zu sein und eine Fortsetzung der nur fahl beleuchteten, weiß getünchten Mauer der Galerie. Auf der Leinwand mit dem Esel ist in Rot mit verwitterten Metallbuchstaben der Schriftzug »Kino« angebracht. 

Eine unendliche Distanz

Warum dieses Foto? Für Gue Schmidt ist es ein Fundstück. Es hat einen Zeitungstext des Völkerrechtlers Norman Paech illustriert. Halten wir in aller Kürze fest, es steht gerade nicht gut um das Völkerrecht, wenn der israelische Botschafter bei den Vereinten Nationen, Gilad Erdan, die Charta der Vereinten Nation vor den Augen der Generalversammlung schreddert. Ein Akt der Verzweiflung. Erdan wollte im Mai 2024 nicht wahrhaben, dass die überwältigende Mehrheit der Staaten die Aufnahme Palästinas als Vollmitglied empfiehlt. Ausgerechnet jetzt, nach dem Massaker der Hamas-Terroristen am 7. Oktober 2023? Wenn aber die allgemeine Verbindlichkeit einer Weltgesetzgebung durch die Vereinten Nationen von beiden Seiten (die Terrorbande der Hamas muss man hier nicht erst fragen) aufgekündigt wird, dann kann die Weltgemeinschaft nicht mehr durch die Einhaltung des Rechtes vermitteln. Die Distanz zwischen den Kriegsparteien scheint unüberwindlich. Sie scheinen vergessen zu haben, dass jeder Krieg, wenn er nicht unendlich währen soll, mit einem Friedensschluss endet. Und Frieden schließt man mit einem Feind, obwohl man diesem immer noch viel vorzuwerfen hat. 

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Warum Kino? Gue Schmidt sieht in der medialen Übertragung des Krieges ein Problem. Das Mitgefühl für das bebilderte Leid entsteht nicht, weil alles eigentümlich distanziert erscheint. Wie in einer Kinovorstellung sehen wir tagtäglich das Elend. Da wir aber ohnehin nichts tun können, resignieren wir und nehmen es hin. Aber wie können wir dies hinnehmen? Wenn etwa in einem Video auf Social Media zu sehen ist, wie der 19-jährige Software-Engineering-Student Sha’ban al-Dalou bei lebendigem Leibe verbrennt? Manche glauben, dass durch Bilder wie diese, ein Emmett-Till-Moment entstehen könnte. Till wurde in den 1950er-Jahren von weißen Rassisten bis zur Unkenntlichkeit verprügelt, in den Kopf geschossen und schlussendlich ertränkt. Seine Mutter entschied sich dazu, die entstellte Leiche ihres Sohnes in einem offenen Sarg zu zeigen. Die Folgen der Normalität gewordenen mörderischen Gewalt gegen People of Color in den USA wurde dadurch sichtbar. Nachdem das Bild Emmett Tills in vielen Zeitungen erschienen war, entschlossen sich viele Weiße, in den Kampf der Bürgerrechtsbewegung miteinzutreten. 

Diesen Moment der Umkehr scheint der Krieg in Israel und Palästina längst überschritten zu haben. Beide Seiten bemühen sich unaufhörlich, ihr eigenes Leid darzustellen. Dies führt aber nicht mehr zum Mitgefühl, sondern wird längst als symbolische Kriegshandlung erachtet. Wütend verschließt man sich vor dem Schmerz der »anderen Seite« und fordert unmittelbar und sehr energisch die Darstellung der eigenen Not. Alle Verbrechen sind schließlich nur Reaktionen auf andere Verbrechen. Nun, wir dürfen uns gewiss sein, der sterbende Esel von Dschabalija ist kein fanatischer Islamist und er ist auch kein faschistischer Siedler. Er ist ein Sterbender, dem Leid zugefügt wurde, an dessen Entstehung er keinen Anteil hatte.

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Ein sinnloser Krieg 

Beide Seiten fühlen sich in diesem Konflikt von einem übermächtigen Gegner umstellt und diesem schutzlos ausgeliefert. Nur durch gewaltsame Härte meint man, überleben zu können. So lange Israelis und Palästinenser dies glauben, ist es in gewisser Hinsicht wahr. Gue Schmidts Begriff des »Kinos« ist in einer grausamen Weise auch für die Konfliktparteien zutreffend. Man versucht durch Raketenabschüsse und insbesondere Drohnen, sich von den Opfern der eigenen Gewalt zu distanzieren. Niemand der Abschießenden muss mitansehen, was die Hisbollah-Drohne anrichtet, wenn sie in der Kantine des israelischen Militärs explodiert. Nein, im Gegenteil. Es wird einfach der Erfolg bejubelt, der in diesem abstrakten Töten liegen soll. 

Aber gerade auch das israelische Militär rühmt sich seiner technologischen Überlegenheit und feiert die Ermordungen von Terroristen. Nur hatten auch diese ein Recht auf Verurteilung und Strafe. Sie hätten vor Gericht gehört. Sie hätten die Möglichkeit haben müssen, sich für ihre Taten zu rechtfertigen und diese nach Verurteilung dann auch zu sühnen. Ein Recht, das übrigens auch jenen Teilen der aktuellen israelischen Regierung zusteht, die vom Internationalen Strafgerichtshof angeklagt worden sind. Kaum jemand in Israel und Palästina scheint dies mehr als Chance für Frieden zu sehen, denn schließlich könnte Recht nicht nur Vergeltung schaffen, es könnte auch Versöhnung stiften. 

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Eher wollen beiden Seiten weiter morden und glauben, dass sie eines Tages gewonnen haben werden. Sie scheinen an einen »Total Victory« zu glauben, wie es sich der israelische Premierminister Benjamin Netanyahu auf seine Baseballkappe hat sticken lassen. Der amerikanische Präsident Joe Biden mahnte Netanyahu bereits im Oktober 2023, dies zu hinterfragen. Die USA haben schließlich gewisse Erfahrungen gemacht. Sie hielten Afghanistan über 20 Jahre mit erdrückender militärischer Übermacht besetzt. Das Militär sprengte zahlreiche Taliban-Führer per Drohnenangriffe in die Luft und fühlte sich gut dabei. Der damalige Präsident Obama scherzte, er sei gut im Töten. Aber die technologische Übermacht erwies sich als bedeutungslos. Am Ende haben die Taliban den Krieg gewonnen und verwandeln das Land heute in eine Hölle aus religiösem Wahn und Frauenhass. Die Amerikaner hatten sich den Krieg gegen die Taliban quasi nur im Kino angesehen, in den Aufnahmen ihrer Drohnen. Das Bild, das sie dabei gewonnen hatten, war ein grundfalsches. Die Kunst könnte dazu beitragen, diesen Irrtum aufzulösen. 

Gue Schmidt stellt seiner Ausstellung die Worte des deutschen Dramatikers Peter Hacks voran:

Kunst ist die höchste Weise, sich um die Menschheit zu kümmern.

Wer sich von der Menschheit hat ausreden lassen, sich um sie zu kümmern, den kümmert nichts mehr.

Die Frage ist nicht: Was macht die Kunst in lausigen Zeiten?

Alle Kunst ist in lausigen Zeiten.

Die Frage ist: Was macht die Kunst in Zeiten der Verzweiflung?

Die Ausstellung »Gazakino« eröffnet am 22. Oktober 2024 um 19:00 Uhr und ist bis 1. November jeweils Dienstag bis Freitag von 17:00 bis 20:00 Uhr zu sehen. Am 25. Oktober um 19:00 Uhr hält die Architekturforscherin Judith Leitner den Vortrag »Framing des Konflikts«, in dem sie die Wirkung des »Krieges aus der Ferne« durch Satelliten- und Drohnenaufnahmen behandelt. 

Link: https://www.nammkhah.at/Mag3/GazaKino_D.html 

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