Den Mittelpunkt dieser 386-seitigen Coming-of-Age-Geschichte bildet das Liberty House in einer »weißen Zone« – das heißt, einem Umfeld ohne digitale Einflüsse – und mit strengem Vegetarismus am französischen Land, das von 30 »Invaliden« jeden Alters bewohnt wird, wie Ich-Erzählerin Farah es benennt. Das spirituelle Oberhaupt Arkady sieht im Liberty House eine Aufnahmequote für finanziell benachteiligte Außenseiter*innen der Gesellschaft vor. Farah zog mit ihren wahnhaften Eltern mit sechs Jahren dorthin, wo sie sich durch die Liebe und Fürsorge Arkadys abseits einer bedrohenden »Außenwelt« entfalten konnte. Der Glaubensgrundsatz in der Gemeinschaft lautet »kollektive Liebe für alle«, exzessive und bedingungslose Lust sowie freie, wilde Liebe, Nudismus und »radical honesty«. »Man muss Menschen schon verachten, um sie zu belügen.« Die Liebe im Liberty House ist diffus und unbestimmt: Jede*r schläft mit jede*m.
Vergötterung
Farah hingegen sucht die exklusive Liebe. Eine ungewohnte, weil direkte und damit für manche unerträgliche, anstößige Sprache bezüglich Sexualität und Geschlechtern wird bereits in den ersten Seiten eingeführt und zieht sich durch die gesamte Geschichte. Farahs sexuelles Begehren für Arkady, den Mann ihres Lebens, der sich in einer Beziehung mit Victor befindet, wird als so dringend von ihr artikuliert, dass sich die Lesenden unmittelbar mit ihr identifizieren und es nachspüren. Farah bezeichnet sich als Arkadys Schülerin und Groupie. Ihre Entjungferung verspricht ihr Arkady mit einem mexikanischen Fest an ihrem 15. Geburtstag. Arkadys Begehren beschreibt Farah als unendlich, hingebungs- und sehnsuchtsvoll. In einem Naturversteck entfesseln sie ineinander hemmungslose Lust. Der spirituelle Mentor Arkady kümmert sich um Farahs geistige wie sexuelle Erziehung. Denn der Geist steckt überall. Farah bezieht Lust aus sämtlichen außervaginalen Praktiken … wie sehr wird die Vagina doch überschätzt. Beide sind unersättlich.
Desillusionierung
Farahs knochige, breitschultrige und muskulöse Struktur und der Ansatz eines Barts sorgen für Verwirrung. Nachdem ihre Menstruation ausbleibt, attestiert ihr eine Gynäkologin das Fehlen von Gebärmutter und Gebärmutterhals sowie eine Vagina von 3 cm Länge. Die Frage, wer sie überhaupt ist, stellt sich zu diesem Zeitpunkt. Als Stimme, Muskelmasse und Behaarung »aus dem Ruder laufen«, sieht Farah nur noch die treffende Bezeichnung »Transgender« für sich. Farahs Ernüchterung gegenüber ihrem Liebesobjekt Arkady geschieht ausgerechnet durch das Eindringen eines Refugees, der für Farah und Daniel zu einem Wunsch-Begehrensobjekt gerät; von der Bruderschaft und Arkady aber grausam ausgeschlossen und vertrieben wird, was Farah zum Aufbruch in die »Außenwelt« veranlasst. Ein schmerzendes Ende der Bruderschaft und Erzählung – wie könnte es anders sein – erfolgt in der »Apokalypse now«.
Was dieses Buch bravourös vollbringt, ist eine beißende Sozialkritik, kombiniert mit einer liebevollen Beschreibung der fehlbaren auftretenden Figuren, die sich allesamt durch ihr Außenseiter*innentum auszeichnen. Farahs Entwicklung ist eine Geschichte des Aufbruchs, die eine Dekonstruktion und Sprengung von Normen und Kategorien vollzieht. Oftmals ist spürbar, dass trotz der leidenschaftlichen Poetik des Texts und seiner Beschreibungen eine exklusive Fachsprache, mit Fremdwörtern gespickt, verwendet wird, die einer 15-Jährigen an vielen Stellen nicht zuzumuten ist. Große Empfehlung für dieses irritierende Werk!