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Joseph Allred

»Old Time Fantasias«

Scissor Tail

Dreißig Jahre ist es her, dass Lambchop eine musikalische Verbindung herstellten zwischen Nashville und Chicago, zwischen dem Zentrum der amerikanischen Country-Musik und dem Ort, der exemplarisch für den sogenannten »Post-Rock« stand und steht. Der damalige Versuch, die stilistische Entwicklung und Öffnung in Indie- und Punk-sozialisierten musikalischen Szenen begrifflich zu fassen, mutet aus heutiger Sicht etwas tapsig an bzw. lässt sich mit ein wenig Abstand feststellen, dass in der Rezeption zum damaligen Zeitpunkt vielfach schlicht der Zugang und damit das Wissen um die zugrundeliegenden musikalischen Bezugspunkte fehlte. Die Gitarrenmusik war zwar »irgendwie nicht mehr so rockig«, Bands wie Tortoise nahmen Anleihen an Komponisten wie Steve Reich, The Sea & Cake bedienten sich am Katalog des Jazz-Labels ECM, Gastr del Sol coverten John Fahey und Cul de Sac nahmen ein Album mit ihm auf – nur waren diese historischen Vorbilder und ihre Musik noch nicht einschlägig bekannt und daher war die Ratlosigkeit ebenso groß wie die Begeisterung über die neuen, stilistisch ausgreifenden Spielarten, die querlagen zum klassischen Jugend- bzw. subkulturell dominierenden Indie-Punk-Rock-Ding. Und hätte man damals The Sea & Cake als Jazz-Rock apostrophiert, ob sie dann noch als »heißer Scheiß« durchgegangen wären? Das waren noch Zeiten …

Seit digitale Archive zur Verfügung stehen bzw. entstanden sind, ist, zumindest theoretisch, beinahe jede noch so obskure musikalische Referenz recherchierbar. Ob rare Aufnahmen von Vorkriegs-Country-Blues-Schellackplatten, vergessen geglaubte Cosmic-Americana-Privatpressungen aus den frühen 1970er-Jahren oder obskure Psychedelic-Outsider-Folk-Alben: Im Prinzip alles verfügbar. Wenn bzw. seit man weiß, wie und wo man suchen muss, kann man nicht nur beinahe alles finden, um sich unterhalten oder inspirieren zu lassen, sondern auch musikalische Neuerscheinungen im Handumdrehen in Traditionen einreihen, die musikalische DNA eines Albums bestimmen und über Jahrzehnte hinweg Verbindungen herstellen. So entstand und entsteht schnell der Eindruck, es gebe nichts Neues mehr unter der Sonne. Um diesem Eindruck begrifflich beizukommen, bediente man sich eine Zeit lang der populären Diagnose der »Retromania«: Wo einst (journalistische) Ahnungslosigkeit herrschte, wurde jetzt angesichts der verfügbaren Fülle an historischem Material und dessen Recycling gegähnt und »das Neue«, das angeblich fortschrittliche Popkultur auszeichnet, vermisst bzw. gefordert. Auch nicht ideal. 

Was hat das alles mit Joseph Allred und dessen neuem Album zu tun? Nun, je nachdem, wie ich mich orientiere, kann ich dessen aktuelle Veröffentlichung als gemütlich gestimmte Kaffeehausmusik wahrnehmen, mich ob des sorgfältig orchestrierten Wohlklangs zurücklehnen und den lieben Gott einen faulen Musikkritiker sein lassen oder mich mit detektivischem Eifer daranmachen, historische Bezüge herzustellen und musikalische Verbindungslinien freizulegen, und versuchen, die instrumentalen Kompositionen auf »Old Time Fantasias« einzuordnen bzw. in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Entscheide ich mich für Letzteres, dann finde ich den Weg zurück nach Chicago und Nashville, zu Lambchop und den Bands und Projekten des Post-Rock der 1990er-Jahre und deren stilistischer Offenheit. Von diesem historischen Moment aus ist die Suche nach weiteren möglichen Inspirationsquellen beliebig erweiterbar. Immer tiefer kann ich mich in die Vergangenheit hineinwühlen, Jazz-, Country- und Folk-Alben hören und Vermutungen darüber anstellen, ob Joseph Allred und die Schar Musiker*innen, die zu »Old Time Fantasias« beigetragen haben, zum Beispiel »The Winter Consort« von 1968 gehört haben? Ich nehme an, sie kennen es. Ich kenne es ja auch. Aber spielt das eine Rolle? Ja und nein, je nachdem, siehe oben. »Old Time Fantasias« vereint eine Vielzahl an musikalischen Einflüssen und Traditionen, aber wer zufällig bzw. weil der Algorithmus es so wollte über Joseph Allreds Musik stolpert, der oder die kann an »Old Time Fantasias« auch unbeeindruckt von komplizierten Forschungsfragen popkultureller Spurensuche Gefallen finden, natürlich.

Home / Rezensionen

Text
Holger Adam

Veröffentlichung
17.06.2025

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