Ein Aufeinandertreffen von Insidern, Kennern, Fachleuten, Neugierigen, Mainstream, Independent, Avantgarde, Prätentiösem, Alternativem. Die Möglichkeit von Freiheit und des Grenzenlosen werden an Radikalästhetischem in Neo-Free Jazz und Improvisation ausgelotet mit der Programmreihe »shortcuts« im Kunsthaus Nexus. Man begegnet sich aber auch locker gesellig mitten auf’m Rathausplatz bei der citystage oder speziell abgelegen auf der Steinalm.
Ich treffe den NYC-Downtown-Multiinstrumentalisten und Komponisten Elliott Sharp, der mit einer seiner eigenen Formationen namens Carbon und bei Rova Orkestrova präsent ist und sich nie oberflächlich Kommerziellem annähert, in der Bar der VIP-Lounge. Er, schwarzgrau gekleidet wie immer, seinen obligatorischen Espresso bestellend, sagt über Saalfelden: »Es ist jedesmal ein willkommenes Umfeld – das Publikum ist extrem offen, wie eine Mischung aus alten und neuen Freunden. Man merkt, dass die Leute wirklich zuhören. Damals als das Festival im Zelt auftauchte war es eine wilde Partie. In den Veranstaltungsräume jetzt ist es gebändigter, aber eine Verbesserung fürs Zuhören.«
Am Wochenende beobachte ich die mainstage im Congresshaus, schickes Festivalzentrum. Zum einen mit der Intention, meine Aufmerksamkeit zwei Legenden des Free Jazz zu widmen: Ornette Coleman himself. Und einer Neuinterpretation John Coltranes von Rova Orkestrova. Aber zum andern natürlich mit weiter sich bietenden Facetten und Tendenzen im Fokus . Größte Spannweite also von elementarer Free-Jazz-Geschichte bis hin zu neuesten Experimenten.
Um gleich einmal das Spektrum näher zu benennen: Steven Bernsteins »Diaspora Suite« ist Zersplitterung, aber auch Ineinanderfließen von Spielformen, perfekt und höchstenergetisch. Mit Ben Goldberg , Devin Hoff, Scott Amendola in der Gruppe. In eine Art freie Lässigkeit mit Destruktionstouch führt die Improvisation des Oliver Lake Reunion Trio. Das Erik Friedlander Broken Arm Trio betont offenes Terrain für kammermusikalische bis jazz-experimentelle Cello-Subtilität. NYC-Spoken Word und Bluesstimme von Eric Mingus trifft in »Room« auf den österreichischen Saxophonisten Wolfgang Puschnig. Ein Eintauchen in die Atmosphäre stranger Leichtigkeit vermittelt Jim Pugliese’s Big Easy. Ungemeine Kraft einer Kombination von Punk, R’n’B und Free Jazz bieten Getatchew Mekuria & The Ex.
Rova Orkestrova’s Electric Ascension
Am frühen Samstag-Nachmittag sind Rova Orkestrova die Opener. Der Himmel ist zu, grau. Temperatursturz. Große, weiße Wolken liegen fast auf dem Talboden Saalfeldens. Der Congress ist schon nachmittags ein lebendiger, gut besuchter Treffpunkt. Von einem Moment zum andern gerate ich aus der Ruhe dieses eiskalten Gebirgstags in die geballte, aufgeladene Wucht des als Klang-Tsunami angekündigten Rova Orkestrova’s Electric Ascension. Die Neuversion von John Coltranes orchestraler Kollektivimprovisation »Ascension« aus dem Jahr 1965 wurde von Rova bereits 2005 auf CD veröffentlicht. Rova sind das Rova Saxophon Quartet bestehend aus Larry Ochs, Jon Raskin, Bruce Ackley und Steve Adams, die seit 1977 in Zusammenarbeit mit diversen Musiken und mit Basis in San Franzisco präsent sind. Für »21 Century Coltrane« sind in Saalfelden dazugekommen: Chris Brown, Andrew Cyrille, Trevor Dunn, Peter Evans, Jason Kao Hwang, Eyvind Kang, Ikue Mori, Zeena Parkins, Elliott Sharp und bilden ein dichtes Klanggewebe mit Raum für Experimentelles und Improvisation. Elektronik, Streicher und E-Gitarren erweitern die Bläser zu orchesterhafter Dichte und Dimension, die wie ein fester Klangblock wirkt, voll berstender Energie. Jedes Instrument ist offenbar in der Intensität gleich präsent. Man nimmt nicht Einzelheiten wahr, sondern die Musik als ein Ganzes. In der die Individualität der Beteiligten, wie transzendiert wird. Frei von jeder Hierarchie. Das lässt im Grunde auch an Ornette Coleman denken und seine Theorien. Ist aber sehr viel härter als die harmolodische Eigenart. Und steigert sich bis zu extremster Lautstärke.
Elliott Sharp sieht das parallel zu anderen Entwicklungen in freier Musik, stochastischen Prozessen, elektronischer Musik und musique concrète, offenen Partituren, Unbestimmtheit – allen Bewegungen, die zusammen Soundmaterialien befreiten.
Coltranes »Ascension« entstand, nachdem Ornette Coleman Anfang der 1960er Jahre in New York zur zentralen Figur geworden war. Während sich dieser dann 1963 – 65 zurückgezogen hatte, setzte sich Coltrane nach den Quartett-Einspielungen »A Love Supreme« und »Crescent« mit »Ascension« in Szene. Mit einem Gruppenensemble, mit u.a. Archie Shepp, John Tchicai unter den dreizehn Mitgliedern, um die bisherige Dimension seiner musikalischen Arbeit zu sprengen. Auf dieses Spätwerk, freier als die konservativ-spirituellen Anfänge, bezieht sich Rova Orkestrova. Elf Musiker, die geradezu eine ohrenbetäubende, orchestrale Klangmacht bilden können, die sich aber auch aufspaltet zu durchlässiger Vielschichtigkeit und Vielfältigkeit durch Betonung und Exponierung von Soli, Duos, Trios. Markant Sharps Gitarrenbass im Duo mit der Trompete von Evans. Poetisch ein Violin-Viola-Duo von Hwang und Kang. Cyrilles Schlagzeug, oft fast wie ein Element Lockerung inmitten von totaler Härte. Manches Instrument taucht inselartig im Orchester auf. Parkins‘ Harfe kann sich dazu nicht selten aufs Eigenwilligste einklinken. Parkins, eine der wenigen Musikerinnen beim Festival. Mehrmals aber formt das Orchester aus dem historischen Material des Free Jazz unter bis an die Schmerzgrenze anschwellender Lautstärke eine Art Klangwand reinsten Noise mit Gleichberechtigung aller Spieler. Gelegentlich wird fragmentarisch originalgetreu zitiert inmitten von Sound, den man futuristisch nennen kann. Um Werktreue geht es nicht. Aber doch um Traditionsbezug. Wäre Coltrane noch am Leben, er hätte dasselbe getan, so Larry Ochs.
Damals wie heute ist »Ascension« eine radikale Aussage außerhalb des Mainstreamcompatiblen.
Coltrane wagte einen Schritt in ungewohnte Sphären. Rova Orkestrova bieten selten Krasses. Freigeister jenseits allen Multikultigeredes. Denen auch fundierte Studien fremder Kulturen, Neuer Musik und Kunst vertraut sind. Für die Musik hat eine unkorrumpierte Aussage im weltgeschichtlichen Diskurs zu sein, jenseits des billig Konsumierbaren.
Ornette Coleman Quartet
Blauer Himmel überspannt am Sonntag wieder den sommerwarmen Bergort. Ich verbringe Zeit fast wie chillend, relaxt in Sets mit zumeist eher Feinnervigem hineinhörend. Zwischendurch begegnen wir Journalisten den Musikern auf dem Balkon der Lounge in der Nachmittagssonne. Ich plaudere mit Eric Mingus, dem Sohn von Charles Mingus. Stimme mich ein auf das konzentrierte Hören des Festival-Mainacts: Ornette Coleman.
Coleman, der 1960 mit der Veröffentlichung von »Free Jazz« als Neuerer auftrat, startet seinen Auftritt zum Festivalabschluss fast lyrisch, sentimental. Wechselt im ersten Stück zwischen Saxophon und Trompete. Später auch einmal zur Violine, neben einem Bass wie bei einer Cellosuite.
Im lilafarbenen, feinrotgestreiften Anzug und schwarzen Basthut, ist der schmächtige, fast 80-jährige Mann, lebende Autorität des Free Jazz, im Zentrum der Bühne und koordiniert ein Spiel, das in seine gesamte Werkgeschichte führt. Mit ihm in der Formation: die Bassisten Anthony Falanga und Al McDowell und sein Sohn Denardo Coleman am Schlagzeug. Ein Quartett. Coleman arbeitet damit darn, an sein Original Quartet der 1960er Jahre zu erinnern, genauso aber auch die Zeit von Prime Time anzudeuten und begibt sich natürlich ebenso in sein jüngstes Material. Die ?bergänge sind wie fließend. Das harmolodische Gedankengebäude besteht im Grunde von Anfang an in Colemans Arbeit, auch schon im Original Quartet, wurde aber erst etwa 1972 zu Prime Time theoretisch mit Worten artikuliert und diskutiert. Der Grundgedanke ist eine Synthese
aus »harmony«, »movement« und »melody« bzw. »melodic«. Daraus entsteht die Formel »harmolodics« als ein offenes Spiel. Bei dem die Improvisation Form schafft. Auch in Saalfelden ein sich stets veränderndes Klangbild. Immer wieder werden in diesem Ineinandergehen von Soundflächen und Soundlinien Motivkürzel eingefügt, die betont oft wiederholt werden. Auch Denardo Colemans Schlagzeugarbeit ist davon geprägt. Kann einfühlend zurückhaltend sein, genauso wie härtestes Strukturieren und Vorwärtstreiben . Coleman verlangt vom Musiker wie vom Zuhörer extreme Hörfähigkeit, Bereitschaft zu besonderem musikalischen Denken. Wobei das Ganze mittlerweile etwas gezähmt wirkt, da nicht mehr neu, nicht mehr alternativ, längst den Hörgewohnheiten vieler vertraut. Aber an Ausstrahlungskraft hat der Charismatiker aus Fort Worth, Texas nichts eingebüßt. Sicher hat sich sein Spiel etwas verändert. Weniger Widerspenstigkeit, sondern eine unglaubliche Wärme geht davon aus. Auch im Dissonanten, Atonalen. Coleman soll ja Kreativität als soziale Botschaft bezeichnet haben, von Beginn an als Visionär von Weltverbesserung gesprochen haben. Harmolodic meint nicht nur Musik. Sie existiert auch im menschlichen Körper, in dem Sinne, wie das Nervensystem mit dem Wissen korreliert. Es ist ein Weg wahrzunehmen, wie alles auf alles einwirkt«, sagte er vor wenigen Tagen.
Harmolodic ist zeitlos, ständig in Wandlung begriffen. Mit Potential, das eine Weltphilosophie birgt. Vielleicht, wie der CD-Titel »Sound Grammar« von 2006 sagt, eine Art Grammatik. Für ein musikphilosophisches Programm als Entwurf zu herrschaftsfreiem Diskurs, Kollektivität.
Coleman zeigt sich nach dem Konzert kommunikativ in der Lounge. Wir wechseln zwanglos ein paar Worte über Harmolodics.