Die Rolling Stones haben ungefähr Ende der 1970er-Jahre einen verwegenen Plan gefasst: »Wir spielen so lange, bis noch der letzte unserer Fans friedlich im Altersheim verstorben ist«. Gesagt, getan. Jahrzehntelang ging man auf Tournee mit der ewig gleichen Setliste. Darin enthalten alles, was das Lecithine-gestärkte Herz begehrt: »Start Me Up«, »I Can’t Get No Satisfaction« etc. Das sind übrigens Songs, die schon in Rundfunk- und Fernsehwerbungen (Snickers, Apple, Sony und viele mehr) die Authentizität ihres Gefühlsausdrucks eindrucksvoll belegen konnten. Die Welt nahm den seltsamen Plan, das Publikum im wahrsten Sinne des Wortes zu Tode zu nudeln, mit Verwunderung zur Kenntnis und eilte sogleich begeistert und in Strömen in die Stadien. Durch den Zustrom neuer und auch jüngerer Fans geriet das gefasste Ziel leider außer Reichweite und die Stones gerieten in eine unendliche Zeitschleife. Das immergleiche, alterungslose Publikum, dieselben Stadien, dieselben Songs. Da die Stones (insbesondere Mick Jagger und Keith Richards) es klugerweise bereits mit Anfang Vierzig geschafft hatten, im Gesicht wie Mitte Siebzig auszusehen, vergingen die Jahrzehnte somit, ohne jede Spur zu hinterlassen.
Lebensversicherung gefällig?
Das Geschäftsgebaren der Stones darf nicht enttäuschen. Musikbusiness heißt nicht grundlos Business. Wie Angus Young von AC/DC gerne betonte, unterscheide erfolgreiche Bands von weniger erfolgreichen die Bereitschaft, früh aufzustehen und – verdammt nochmal – auch das zu tun, was man sich vorgenommen habe. Die verschlafenen Bands, die immer nur Party machen, schaffen das nicht und verschwinden bald vom Markt. Braucht man allerdings Mick Jagger, dem Studenten der London School of Economics, nicht groß erklären. Mit Anfang Zwanzig wandte er sich vertrauensvoll an einen Investment-Guru und dieser übermittelte der Nachwelt das hübsche Geständnis Jaggers, dass ihn das Versicherungswesen am meisten von allen interessiere. Deswegen suche er nach geeigneten Anlageprodukten, schließlich könne er sich nicht vorstellen, wie er mit Sechzig noch auf der Bühne stehen würde, um den Rockkasper runterzureißen.
Bekanntlich sind Vorhersagen schwierig, insbesondere, wenn sie die Zukunft betreffen, und es kam für Jagger genau, wie nicht gewünscht. Der Wirtschaftsjournalist mit dem schönen und äußerst passenden Namen Andy Medici befragte Jagger einmal zu dessen Werbekooperationen mit Versicherungsunternehmen. Überrascht stellte er fest, dass Mick Jagger keine wie auch immer gearteten Berührungsängste hatte. Der Wirtschaftsjournalist verlor dabei jene letzten Illusionen der angeblichen Wildheit der Rockmusik, die Musikjournalist*innen kaum je hegten. Die Versicherungskonzerne hatten nämlich ihrerseits das anscheinend dann doch wohl irgendwie alternde Stones-Publikum als ideale Kundschaft für ihre Lebensversicherungsprodukte ausgemacht. Der Hunderte Millionen schwere Jagger erkannte gleich zahlreiche Opportunities der Geldvermehrung. Ob Mars Incorporated, Apple, Sony oder Versicherungskonzerne, den Stones konnte es bei der Wahl ihrer Sponsoren nicht reich genug sein. Wo viel Geld, da auch bekanntlich viel Schmutz. Nur so richtig Counterculture war die Band nie, um sich darüber aufregen zu können. Nachdem sie selbst durchs tiefe Tal einer beinahe Pleite gewandelt waren, kam ihnen die Erfindung des Stadionrocks gerade recht und sicherte der Band wieder Millionengewinne. Voraussetzung: Eisenharte Disziplin, d. h. nur mehr Schwarztee in der Whiskeyflasche, Joghurtessen und das Eingehen sehr fragwürdiger Sponsorendeals, denn sonst lohnt sich auch ein ausverkauftes Stadion kaum. Kurzer Business-Insider-Tipp: Lebensversicherungen sind für Versicherungsgeber*innen immer lukrativer als für -nehmer*innen, es sei denn, es wird mit dem eigenen Leben »bezahlt«. Es darf angenommen werden, dass Mick Jagger dies als Student der Wirtschaftswissenschaften weiß und deshalb kann der ganze Lebensversicherung-Werbedeal füglich unter »B« wie »Betrug« abgeheftet werden.
Die Stones sind die Stones sind die Stones
Und jetzt dieser neue Song. Schon mit ihrem Auftritt bei One World: Together At Home konnten die Herren mehr als alle anderen überzeugen. Wie sie da die alte Klamotte »You Canʼt Always Get What You Want« überstreiften, war schlicht gut. Diese ungebrochene Lust am Performen, dieses Verwachsensein mit den Instrumenten, das ist schon sehr beeindruckend. Sie musizieren seit sechzig Jahren und haben dabei eine Einheit von Körper und Geist gefunden, die ziemlich bemerkenswert ist. Eine Gnade scheint darin zu liegen, nie aufzuhören und immer wieder die Gitarre in die Hand zu nehmen und immer wieder die gleichen Songs durchzuarbeiten. Das mag zu gewissen philosophischen Spekulationen darüber führen, was so ein Menschenleben ist. Vielleicht ist es weniger das Neue als die »Differenz und Wiederholung«, die zu glücklichen Ergebnissen führen.
In der neuen Einspielung »Ghost Town« liefern die Stones jedes Tönchen an die rechte Stelle. Der Song ist wirklich eine Wonne. Die – wahrlich unverbrauchte und in Würde gealterte – Stimme Jaggers, das bestimmende und vollendete Drumming Charlie Watts’ und dazu Gitarre, Bass – ach komm, alles einfach super. Ein Stück wie aus einem Guss. Der Humor des sechsundsiebzigjährigen Jagger sitzt: » I’m a ghost / Living in a ghost town«. Inhaltlich wird genau das transportiert, was die Stones am besten können, der leidenschaftliche und eigentümlich tiefe Aufschrei des »Ich will hier raus, ich will Fun und Party«. Was sonst? Die Welt (von Politician bis Preacher) ist, wie sie ist, und jetzt dürfen wir nicht raus, wegen diesem dämlichen Corona-Kram. Ja eh. Festzuhalten bleibt letztlich: Die Stones sind einfach unglaublich gute Rockmusikanten und sie sollen ruhig weitermachen, bis sie Hundertundfünf sind. Es wäre halt fein, wenn sie aufhören würden, Versicherungen zu verscherbeln. Aber was können die armen Superreichen für die Verdorbenheit dieser Welt? Denkt sich das verträumte Herz beim Anhören dieses wirklich guten Songs.