Die vom deutschen Bildungsbürgertum einst heißgeliebte ›Ulknudel‹ Vicco von Bülow, genannt Loriot, erlaubt sich einen Scherz. Als Hausmeister verkleidet tut er so, als würde er eine Fliege fangen wollen. Da er ihrer nicht habhaft wird, werden seine Armbewegungen im leeren Raum immer wilder. Durch einen Zufall gerät er bei seiner Jagd nach der Fliege auf das Pult der Berliner Symphoniker. Die halten ihn für den Dirigenten und spielen gemäß der durch die glücklose Fliegenfängerei bedingten Gesten. Bemerkenswert an diesem seichten Scherzlein ist, dass von Bülow sich später über die Reaktion des Orchesters wunderte, denn er hatte es nicht für möglich gehalten, dass die Musiker tatsächlich versuchen würden seinen offensichtlich sinnlosen Gesten zu folgen. Hier zeigt sich im Kern die Abgestumpftheit des bürgerlichen Verhältnisses zum Akt des Musizierens: Die unmittelbare Interaktion der Musizierenden untereinander ist nicht das Entscheidende, sondern die Erfüllung der Pflicht der Notation. Die Gesten des Dirigenten haben auf die festgeschriebene Vorlage der Partitur zu weisen, so wie der ausgestreckte Arm des Polizisten auf das einzuhaltende Gesetz. Ebenso wie geschrieben steht wie wir uns zu verhalten haben, steht geschrieben was wir zu hören haben. Jede Spontanität könnte Grabschändung der Klassiker sein. Dieses Verhältnis zur Musik, das sich beim Poppublikum im Bedürfnis äußert auf dem Konzert eine getreue Wiedergabe der Plattenaufnahme serviert zu bekommen, muss als tiefe kulturelle Einschreibung begriffen werden. Den Kampf gegen diese Einschreibung kämpft seit vielen Jahren unermüdlich Michael Fischer und das VIO. Am 17. 3. 2016 im Porgy & Bess taten sie es gemeinsam mit der kanadischen Formation Le GGRIL.
Waren in der Alten Musik die ungenauen Notationen noch Einladungen zur Improvisation, dann trat historisch – mit der Professionalisierung des Musikbetriebs – das Element der Improvisation immer weiter zurück. Zwar gab es jene Phase der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts in der die Praxis des Festschreibens allseits problematisiert wurde, aber die Ausbruchsversuche aus dem Gefängnis der Partitur hat der Klassikbetrieb gemeinsam mit Friedrich Gulda beigesetzt und die Nerven der Popohren halten bei Free Jazz allenfalls, wenn dieser in homöopathischen Dosen verabreicht wird. Etwas von den Rezeptionsschwierigkeiten rund um improvisierte Musik mochte in der Ansage im Porgy & Bess mitgeschwungen haben, als diese zu einem »langen Abend« einlud. Dabei war der kurzweilig.
Texturen und Rhythmen
Zunächst der (improvisierte?) phänomenologische Ûberblick der Ereignisse:
Der erste Teil des Konzertes bestand aus drei Stücken, die von Le GGRIL ohne das VIO absolviert wurden. Das erste Stück. Circa zehn Minuten. Die Musiker nehmen Platz, orientieren sich aneinander und scheinen zunächst zu warten. Dann holen einige Musiker übergroße Spielkarten hervor und beginnen diese umständlich zu mischen. Sie ziehen Karten und halten diese hoch. Erste Instrumente ertönen. Das Ensemble lässt sich bereitwillig in die Karten schauen, es löst das paradoxe Problem des Beginns einer Improvisation aleatorisch. Schon hier zeigt sich die klangliche Breite des Ensembles: Zittern, kurze erstickte Schreie der meist ›überblasenen‹ Reeds springen durch den Raum, sie werden kontrastiert mit Passagen ausgefeilten Spiels. Wie zu erwarten, wird zuweilen in die ›falschen‹ Öffnungen der Blechblasinstrumente gepustet, die Streicher unterbrechen ihren vollen, teils virtuosen Klang durch Kratzen. Das Spektrum des Klangs muss gedehnt werden. Faszinierender Weise wird der Eindruck der ›Neue Musik‹ unterbrochen indem E-Gitarren und Effektgeräte reinpfeffern und ein bisschen ›krautrocken‹.
Das zweite Stück. Circa sechs Minuten. Alle spielen gleichzeitig über die gesamte Länge. Klare Linien erscheinen, alle operieren zunächst an der Grenze der Hörbarkeit, aus dem Erstickten, dem Gepressten steigt das Ensemble in Wellen auf, bis zum größtmöglichen Ausbruch.
Das dritte Stück. Circa 25 Minuten. Michael Fischer betritt die Bühne. Er erklärt kurz das »Instant Composition Conducting«. Mittels einer eigens entwickelten Handzeichensprache kann er den Musizierenden Anweisungen erteilen oder zumindest Vorschläge unterbreiten, die diese dann eigenständig interpretieren. Mangels Partitur muss sich die Rolle des Dirigenten wandeln, Melodien kann er nicht bestellen. Zwar gibt es einige klare Anweisungen wie etwa: ›kurze Noten‹, doch augenscheinlich liegt das Hauptgewicht der Interaktion zwischen Michael Fischer und den Musikern des Le GGRIL in einem wechselseitigen SichÛberraschen. Durch den Einsatz des »Instant Composition Conductors« intensiviert sich das Spiel augenblicklich. Das Klangbild ähnelt den ersten beiden Stücken, ergänzt durch neue Feinheiten. Der Perkussionist entlockt Weinflaschen überraschend delikate Klänge. Das Ensemble konzentriert sich nun auf die gezählten Rhythmen des Dirigenten. In dem Wechselspiel zwischen ›Klangteppich‹, also der gewobenen Textur und den Rhythmen sieht Fischer eine seiner Hauptaufgaben, da ein überbetonter Rhythmus die Texturen leicht verschwinden lässt – und umgekehrt. Der »Atem« des Stückes soll erhalten bleiben. Es wirkt als würden die Arme des Dirigenten einen Vorhang nach dem anderen zur Seite ziehen, bis endlich die Musiker eine lauttönende Kakophonie erzeugen, die allerdings voll Struktur zu sein scheint. Pause.
Michale Fischer dirigierend – (LeGGRIL)
Eine Gruppe mittelalter Herren (Schweden?) auf Geschäftsreise in Wien. Sie beobachten wie Notizen an ihrem Nebentisch gemacht werden. Ob denn ein Artikel über dieses Konzert verfasst werden würde? – »Ja.« Ob denn alle Musik in Wien so sei? – »Selbstverständlich. Meistens noch wilder.« Ob wer über solche Musik schreibt, beim Schreiben auch improvisiert? »Okay. Versprochen, werde schreiben was mir gerade in den Sinn kommt.«
Der zweite Teil des Konzertes besteht aus zwei Stücken, eins halbstündig, eins viertelstündig. Nun musizieren Le GGRIL und VIO gemeinsam. Das Konzert zeigt eine eindeutige Klimax, der zweite Teil wirkt gegenüber dem ersten noch einmal verdichtet. Die Ensembles fügen sich gut ineinander, insbesondere die Gesangsstimmen bringen wichtige neue Facetten. Dazu später. Die Aufführung, die zugleich visuelles Schauspiel ist, zeigt wie die Musiker gespannt den Dirigenten beobachten, mitunter müssen sie erstaunt über die Ergebnisse auflachen und spielen erleichtert über Verunsicherungen hinweg. Michael Fischer zieht feine, spinnenbeindicke Fäden durch die Luft des Porgy & Bess, um dann den nächsten lauten Schlag zu applizieren. Er inszeniert allgemeinen Spannungsaufbau und Spannungslösen. Seine Gesten müssen synästhetische Dimensionen erschließen, sein Körper nimmt Haltungen ein, die Vorformen dessen sein könnten, was die Musikerinnen und Musiker später spielen. Die Pattern, die Cluster, die Linien und Wellen verwandeln den Leib des Dirigenten. Ein Partitur-Polizist sieht anders aus. Dessen Finger muss stets aufs Blatt zurücksinken, auf dem die rechte Note geschrieben steht. Fischer aber dreht sich durch den Raum in die Höhe, irgendwo da oben könnte der nächste musikalische Einfall sein, denn die liegen bekanntlich beim Improvisieren in der Luft. Für das Publikum entsteht der Eindruck bei einem Sprachlehrgang dabei zu sein, die Interaktion, der Sinn der Zeichen zwischen Dirigent und Ensemble scheint sich mit der Zeit zu erschließen.
Grenzen des Grenzenlosen
Die beiden Ensembles spielen so abgestimmt und vereint miteinander, dass der Eindruck entsteht, es könne keine Fehlgriffe mehr geben. Everything seems to fit. No mistakes anymore. Hier könnte – vielleicht – die gläserne Decke der Aufführungspraxis freier Improvisation und des »ICC« erreicht sein: Sie muss sich an einem bestimmten Energieniveau orientieren. Zum einen scheint die nervöse Spannung des Improvisierens, als ein Hinauswarten ins gänzlich Ungewisse zu fehlen. Zum anderen lässt sich erahnen, dass gewisse Ausbrüche sanktioniert werden müssen. ›Absolut free‹ ist so eine Sache, es können schon, so drückt es Michael Fischer aus, »Fehler« passieren, also einzelne Interventionen, die das Geflecht zerreißen. Kann das Dirigat zu souverän sein und damit die Freiheit der Improvisation gefährden? Die Frage ist knifflig, schließlich lebt Musik vom Einstimmen, und eingestimmt wird in konzentrierte Energie. Bei der beeindruckenden Bandbreite von Klängen, Idiomen, die die beiden Ensembles produzieren, müssen sie wohl vor der eigenen Erschöpfung davonlaufen. Sie erkennen einander in ihrem Aufleben und nicht ihrem Zerfall. Eine Musik des gerade noch gehauchten letzten Tones bleibt in unkonzentrierter Unbestimmtheit nicht darstellbar. Der Widerspruch der Oper, in der die Helden aus voller Kehle krakeelend sterben, findet sich hier wieder. Auf die Frage nach einer möglichen ›Komposition der Ermüdung‹ angesprochen, räumt Michael Fischer ein, sicherlich könnte die Müdigkeit bejaht werden, aber vornehmlich begibt er sich auf die Suche nach der Energie. Er lässt jene Musiker in Ruhe, die ihm gerade so erscheinen, als würden sie sich eine Auszeit wünschen.
Eine gewisse Utopie
Die Aufführungspraxis ist, stärker als jene die sich des ›sensus communis‹ der Partitur bedient, eine soziale Interaktion. Es muss ein menschliches Arbeitsverhältnis erzeugt werden, das die Suche nach den Ambitionen, den einzelnen Vermögen der Mitglieder erlaubt. Die Regeln der Befreiung. Ein Ensemble-Mitglied von Le GGRIL drückt es so aus: »It’s like in sports: You have rules but you don’t know who scores.« Die Musizierenden erkennen in dem Herausbilden eines gemeinsamen Rahmens, der allen Freiheit schenken soll, durchaus eine politische Dimension. Ein anderes Mitglied betont, »natürlich wollen wir frei sein« und der Free Jazz hat dies energisch eingefordert. Eine berechtigte Wut entsteht, wenn Grenzenlosigkeit und Unterschiedslosigkeit nicht anerkannt werden. »Man hat die Schwarzen im Krieg kämpfen lassen, aber zurück in Amerika hat man sie wieder ausgeschlossen.« Der Zorn über diesen schäbigen Betrug ist in der New Yorker Musik der 1950er drin. Und immer noch aktuell.
Auf einem der Höhepunkte des Konzertes singt eine der Sängerinnen des VIO im Stil eines rituellen Gesangs. Ethnografische Territorialisierung ist unsinnige Pedanterie, nur so viel: alpin ist es nicht. Ihre Worte sind – wie zuvor in anderen Gesangspassagen – vermutlich ohne lexikalischen Sinn. Aber jetzt, in diesem Moment helfen die Worte mit, eine spontane Selbstentzündung zu initiieren, die aus mannigfaltigen Zufällen, aus erlerntem Können, aus dem rechten Zeitpunkt des instant composition conductings einen Moment von der Intensität einer Bach-Arie erzeugt. Ein ergreifender Moment, der sogleich wieder entschwinden kann, weil er reines, improvisiertes Potential sein durfte.
Jener üblich gewordene Suche nach der einengenden ›Authentizität‹ der Herkunft passt so etwas nicht. Es muss gefragt werden: wer singt so, wo liegen die kulturellen Wurzeln. Ist die Sängerin gar selbst ein Mitglied der »First Nation«? Hat sie das Zeug studiert? Nur: Who cares? Es ist unbedeutend für eine ›Logique de la Sensation‹, die ihre Großartigkeit darin hat, dass sich Sängerin und Stimme in das verwandeln was sie ausdrücken. Diese poetische Macht ist von politischer Gewalt bedroht: Die aktuelle Entwicklung geht nicht zur Freiheit, weder des Ausdrucks noch der Lebensentfaltung. Allerorten sollen Grenzen und Unterschiede betont werden. Man entdeckt wieder das ›Eigentliche‹, die eigene Kultur als Unterscheidungs- und Abgrenzungsmerkmal. Aber kann nicht jede und jeder alles singen? Die Popmusik, die hierzulande schon längst den Zug zur Hölle des Faschismus bestiegen hat, glaubt dies nicht mehr. Rock’n’Roll bekommt eine völkische Dimension verpasst. Das Popsternchen singt erfolgreich seine plumpen Frivolitäten in ›Muttersprache‹. ›Sexy as Hell‹ jetzt endlich in die Sprache Goethes und Goebbels übersetzt. Dem entgegen: Free Jazz, Neue Musik, Atonalität, Improvisation etc., kurz Musik die Formen sprengt ist befreiende Kunst/Kunst der Befreiung und die wird nicht nach Herkunft und Geburtsurkunden fragen. Deswegen – wenn sich ein Rezensent etwas wünschen dürfte – bitte als Nächstes syrische Flüchtlinge mitmachen lassen, gemeinsam mit dem Chor der Burgenländischen Polizeigewerkschaft. Der Witz ist: Wir können vielleicht nicht miteinander reden, aber miteinander musizieren. Diese leise Utopie weht durch den Raum und die Gedanken, wenn frei improvisiert werden darf.
Diese besondere Methode des Musizierens legt eine häufige Neuzusammenstellung des Ensembles nahe. Hier einige der nächsten Termine in verschiedenen Besetzungen:
So. 10. 4. 2016: VIO beim Jazzwerkstatt ZOOM! Festival, WUK
Sa. 16. 4. 2016, 20 Uhr: VIO gemeinsam mit Brunnenchor und Autor Semier Insayif, Brunnenpassage