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Großväterchen Punk

Wir werden immer älter - und mit uns die Musik unserer Jugend. Grans Platte »Chair« ist blutjung, aber voller Altersweisheit. Erinnerungen an den Aufstand von damals inklusive.

Eines ist jedenfalls sicher: Der menschliche Körper ist der Hauptakteur aller Utopien.

(Michel Foucault)

 

Im Artwork zu »Chair« inszeniert sich Gran als einsamer alter Herr und überspringt damit gut fünfzig Jahre seiner realen Lebenszeit – als Florian Tremmel ist Gran Ende Zwanzig und veröffentlicht im zweiten Jahr nach der Mitbegründung des Plattenlabels Totally Wired Records seine erste Langspielplatte. Gut möglich, dass er bei der vorgelegten Geschwindigkeit (Mitproduktion und -herausgabe von siebzehn Tonträgern innerhalb von zwei Jahren) auch wirklich rascher altert – als Greis ist Gran dennoch ein nicht Wiederzuerkennender. Die Fiktion des viel zu jung Gealterten ist dabei mehr als nur ein visuell wirkungsvoller Kunstgriff: sie erhebt den Körper (und die an ihm ablesbare Größe Zeit) zum Hauptakteur des Albums. »Chair« ist der zentrale Ruhepunkt, von dem sich erhebend der Körper seine utopischen Reisen unternimmt. Grans Aufstandsalbum. »For you and for me / I try to stop the time / Oh boy« (»Oh Boy«).

Aufstieg und Fall der Stadt Utopia
Gran hält die Zeit an und geht Geschichten nach. Neben der Fortsetzung der eigenen Erzählung (»The Rise And Fall Of The Crazy Guy«), die mit der 2013er Debüt-EP »No Love« und dem dazugehörigen Film »No Love. The Movie« erstmals vorgestellt wurde, hört man auf »Chair« auch Ausflüge in kollektives Territorium: literarische Utopien und alte Märchenwelten voller Körpermetaphorik. In Oscar Wildes »The Fisherman And His Soul« wünscht sich ein Fischer zu seiner Geliebten an den Meeresgrund und entledigt sich dafür seiner Seele, die ihn über Wasser festhält. Gran spricht mit den Worten dieses Abgetauchten, der eine einmal getroffene Herzensentscheidung gegen keine Verlockung des Realen wieder rückgängig machen will (»This is stranger than love / Once again you try to trick me«). Der nach einem ebenfalls literarischen Motiv benannte Song »Todd’s Syndrome« behandelt halluzinatorische Wahrnehmungsstörungen, wie wir sie spätestens seit Lewis Caroll kennen – das mit Migräne wie Drogenmissbrauch assoziierte Alice-im-Wunderland-Syndrom. Weltflucht schlägt Wirklichkeit. »When logic and proportion / Have fallen sloppy dead« (Jefferson Airplane). Grans einzige Textzeile dazu, gleichzeitig Schlusswort des Albums: »It is so much better than before«.

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Gran (c) David Višnjic

 

My Life In The City Of Ghosts
Geschichtsjahr 1981: David Byrne und Brian Eno ernennen die fremden Stimmen aus dem Off (die Voice-Samples) zu den Hauptfiguren ihres Albums »My Life In The Bush Of Ghosts«. Dieses kulturhistorische Ereignis spukt bis in die Zeit von Gran nach, in der Geisterjäger wie Didi Neidhardt (via David Keenan und Slavoj Žižek) von »Hauntologic Pop« und »Hypnagogic Pop« erzählen: »Musik […], die es am liebsten hat, wenn sie mit Begriffen nicht zu fassen ist und dabei dennoch alles in den Sampler lädt, was am Ende des Tages auf Flohmärkten an Tonträgern noch übrig geblieben ist« (skug #89). Grans Track »A Terrible Place To Lie« vermengt Sounds, die man, wären sie Fieldrecordings, mit »Buddhistischer Gesang« und »New Yorks Ausfallstraßen (Rush Hour)« betiteln würde. Heraus kommt ein Post-»Bush-Of-Ghosts«-Track, der übrigens auch von den Australiern Severed Heads stammen könnte, sich in jedem Fall aber als Wiedergänger der Musikgeschichte zu erkennen gibt. Nicht weniger verhext verhält es sich mit Voodoo Drums Schallplatten, die in ihre Einzelteile zerhackt und als Samples heraufbeschworen, »Chair« seinen rhythmischen Geist einhauchen. Die von Gran preisgegebene Liste jener »Präsenzen«, die an der Entstehung des Albums mitgewirkt haben sollen, liest sich wie ein Fährtenführer in die exterritorialen Gebiete der jüngeren Popgeschichte: Exuma, Television, Swell Maps, The Monochrome Set, The Cure, Autechre, Pan Sonic, nicht zuletzt Roxy Music – und immer wieder Brian Eno, der omnipräsente Punkopa mit der großen Liebe zur afrikanischen Musik. Gran hört gar viele Stimmen und baut daraus seine eigene Geisterstadt: »Watch your back a shadow goes around« (»City Of Ghosts«).

Mach’s dir doch selbst
Das Handwerk dazu beherrscht er. Der ehemalige Koch, Tontechniker, Plattenhändler und Wasserflugzeug-Instandsetzer Tremmel spielt, singt, schneidet, mastert und produziert neben allen Outputs mit seiner Band Dot Dash oder Kollaborationen mit Labelfreund Bruch (BruchGran) sein Solowerk eigenhändig. Grans Utopia gründet, ganz im Geiste der DIY-Culture der Altvorderen des Punk, gleichermaßen auf Solidarität wie auf Selbstermächtigung. Das bedeutet auch weiterhin, klare Grenzen nach außen zu ziehen: mediale Vereinnahmungen, etwa als »österreichische Musik«, oder die populäre Mär von der Authentizität des Künstlersubjekts, kassieren bei Gran bestenfalls verbale Ohrfeigen. »Excuse me / I wanna go / For no reason / I just wanna go / Go, oh please go / You bore me so« (»Sorry«). Gran ist eine zugehörigkeitslose Kunstfigur, der bei aller First-Take-Ästhetik rundherum doch bedeutsam viel Konzept innewohnt. Das Genie ist tot, lang lebe sein maschinell kanalisierter Geist: »Lassen wir die Maschinen, Samples, Softwareprogramme und Apps einfach mal miteinander spielen und schauen, was dabei rauskommt. Enos »Discreet Music« folgte ja auch schon diesem Prinzip und brachte damit sich, nach dem Drücken des Start/Aufnahmekopfs, als Autor gleichsam selber zum verschwinden. Der hauntologisch-hypnagogische Turn besteht nun darin, sich selbst als phantomhaftes Wesen vorweg zu imaginieren« (Neidhardt, ebd.).

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Chair Coverartwork by Clemens Denk & Kate Kristal

Vom Rhythmus besessen
Dass bei all dem Spuk der eingangs erwähnte Körper nicht nur metaphorisch auf »Chair« Platz einnimmt, liegt wohl an Grans hier mit einer Prise Seniorengrant gepfeffertem Eskapismus. Ûberraschend funky, tanzbar elektronisch – acht von zehn der mit Gitarre, Bass, Synthesizer und Rhythmussamples als Postpunk und Dark(?) Wave nur von besonders Schläfrigen abgestempelten Platte peitschen die Motorik an (»Oh Boy« und »The Fisherman And His Soul« nehmen im Downtempo Besitz vom Körper). »Brain Freeze«, ein Sommerhit im zweiten Frühling und seit »Chair« jetzt auch auf Vinyl zu bekommen, ist nur das bislang meistgehörte Beispiel dafür. Zum Aufstand animieren auch Tracks wie »Wooden Beads« eine schimmernde Perle für jede Tropicana-Playlist, »City Of Ghosts«, eine übersteuerter Kraftausbruch des Punk im 2-Tone-Kosmos, der instrumentale Großstadtwestern »KDT« oder das finale »Todd’s Syndrome«, das über eine Laufzeit von fünf Minuten zum pan-sonischen Monster anschwillt, wie die kleine Alice im Haus des weißen Kaninchens.

Gran erzählt die Geschichten vom Ende her – ob als Ausgedienter (»The Rise And Fall Of The Crazy Guy«), Letztgereihter (»The Last One« auf »No Love«) oder Nacherzähler: Der der Maximierung hörige Wettlauf des Heute um das Morgen ist ihm einerlei. »I’m not sorry that you have to wait / I’m always / always too late« (»Sorry«). Mit »Chair« hat er gesehen, wohin die Reise gehen kann. 

Das öffnet allerdings nicht nur den Blick auf das, was schon einmal da war, sondern auch auf das, was wieder sein wird. Älter … und darin so viel besser als zuvor.

Gran: »Chair«/ Gran: »No Love«
Totally Wired Records

 

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