Julian Schnabel etwa hat diese ganz besondere »Symphonie der Klagelieder« zur Untermalung von »Basquiat« verwendet. Und nun spendet Henryk Mikołaj Góreckis Opus Magnum mit Dirigent Krzysztof Eugeniusz Penderecki und Portishead-Vokalistin Beth Gibbons erneut Seelenheil. Hier geht es nicht um das Zusammentreffen von Pop und Klassik, sondern um weihevolle Interpretation der 1976 uraufgeführten Auftragskomposition für den Südwestfunk, die mit dem Polnischen Nationalen Radiosymphonieorchester erneut in Dimensionen nicht ganz von dieser Welt vordringt. Dunkel schwärende Bogenstriche auf dem Cello markieren zu Beginn einen drastisch gesetzten Anker, künden von Unheil. Doch allmählich hebt eine wahre Streicher*innenarmada an und schwingt sich zu einer grandiosen Trauerweidenmusik auf. Sofort dämmert einem in aller Klarheit: Diese Musik bezieht ihre Kraft aus einer unerschütterlichen Religiosität.
Kirchenlied aus dem Riesengebirge
Henryk Górecki (1933–2010), der zunächst serielle Musik komponierte, schöpft im 1. Satz aus den Quellen der Kirchenmusik, aus der »Heiligenkreuzer Klage« (15. Jahrhundert). Beth Gibbons hat sich die polnische Sprache nur für die Interpretation der jeweiligen Lieder angeeignet und diese absolut verinnerlicht. Der Łysa Góra ist der östlichste Berg des Heiligkreuzgebirges (Góry Świętokrzyskie), auf dem sich das Kloster Święty Krzyż befindet. Von diesem Ort im Karkonosze, dem polnischen Teil des schlesischen Riesengebirges, stammt der Text, in dem Beth Gibbons als Maria die Wehklagen über den Tod ihres Sohnes eindrucksvoll nachempfindet. Es geht hier um tiefe Spiritualität und das Sopranseufzen wird begleitet von Streicher*innen, die in lichte Höhen jagen, die Hoffnung symbolisierend, ehe sich im finalen, langsamen Part des »Lento – Sostenuto tranquillo ma cantabile« getauften 1. Satzes wieder tiefe Trauer offenbart. Nach über 24 Minuten kehren die tiefen Cellotöne wieder und der 1. Satz haucht aus.
Wandschrift aus dem Gestapo-Hauptquartier in Zakopane
Der 2. Satz ist der wohl herzzerreißendste. »Lento e largo – Tranquillissimo« (die jeweilige Satzbezeichnung ist eine Art Regieanweisung ans Orchester) ist die Vertonung einer Wandschrift aus dem Jahr 1944 in einem Raum des einstigen Gestapo-Hauptquartiers in Zakopane. Hier verdeutlicht sich, dass der Glaube an Gott vielen von Diktaturen im Kerker Gequälten oft den einzigen Halt gibt, unmenschliche Haftbedingungen überstehen, überleben zu können. Beth Gibbons singt, was die 18-jährige Helena Wanda Błażusiakówna an ihre Mutter richtete, voller Inbrunst: »Nein, Mutter, weine nicht / keusche Königin des Himmels / hilf mir immer«, und schließt daran noch zwei »Ave Maria« an. Die Streicher*innen schicken Lichtstrahlen in die dunkle Zelle und unglaublich schön, abgrundtief traurig fließt der 2. Satz aus. Nach acht Minuten kurze Stille.
Trauervolkslied aus Opole
»Lento – Cantabile-semplice«, der 3. Satz, beruht auf einem Volkslied aus dem südpolnischen Opole aus dem 19. Jahrhundert, als Polen auf der Landkarte nicht existierte und einige niedergeschlagene Aufstände großes Leid über die Menschen brachten. Wiederum weint eine Mutter um ihren verlorenen Sohn und einmal mehr wird Beth Gibbons’ glasklare Sopranstimme von den Streicher*innen in den Himmel getragen. »Die Symphonie der Klagelieder« kann zu Tränen rühren und spendet trotz aller Widrigkeiten Trost, gibt der geschundenen Seele Hoffnung. Henryk Mikołaj Górecki hat mit seiner »3. Symphonie« eine der allerschönsten Trauermusiken des Planeten geschaffen. Nicht umsonst wurde diese Einspielung aus dem Jahr 1992, damals mit der Sopranistin Dawn Upshaw und dem Londoner Symphonie Orchester unter David Zinman, von den Melancholie-affinen Briten 1993 auf den 6. Platz der UK-Album-Popcharts gehievt und verkaufte weltweit über eine Million Stück. Ein Pianomotiv setzt im finalen Schlusssatz den glorreichen instrumentalen Abschwung zum getragenen, allmählichen Versiegen der Wehklagen. Andächtige Stille. Großer, riesengroßer Beifall. Die Live-Aufnahme aus dem Teatr Wielki – Polish National Opera Warszawa datiert vom 29. November 2014. 50 Minuten für die Ewigkeit!