Wie lässt sich in all dem, was bereits gesagt und gespielt wurde, etwas sagen oder spielen, was noch gesagt oder gespielt werden muss? Wie verhält sich die Notwendigkeit von Pop zu dessen postmoderner Beliebigkeit? Beide Gruppen, sowohl die viel ruppiger gestrickte Freiwillige Selbstkontrolle als auch die versöhnlicheren, altersmilden F.S.K., haben sich stets als eine Art Wertstoffhof verstanden, auf dem internationale Popkultur gesichtet, sortiert und reflektiert wird. Auf diese Weise widerstanden sie der Versuchung oder auch: Korruption, in der Popdiaspora Deutschland originäre Musik spielen zu wollen (und diese zur Popnation zu gentrifizieren, also »Dienste zu leisten als offizielle, als Staatssprache«, wie es bei Gilles Deleuze und Félix Guattari heißt). Ich verstehe »Akt, eine Treppe hinabsteigend« daher als Beitrag zu jener Debatte, die Simon Reynolds‘ »Retromania« ausgelöst hat. Das erscheint mir vor allem deswegen plausibel, weil »Akt« zunächst einen zwiespältigen Eindruck hinterlässt und im gleichen Atemzug alt und dann auch wieder ungehört klingt. Nicht völlig ungehört, aber doch im Detail. Natürlich enthält »Akt« keine ??neue?? Musik, aber doch eine, die sich mit dem Problem der Erneuerung herumschlägt. Die Verweise, Referenzen, Zitate und Verortungsgesten, die sie aufbietet – nicht alle davon schlüssig oder triftig -, scheinen eher von einer Klärung zu handeln, als die eigene Flohmarktkompetenz zu feiern.
Coming-of-future
Simon Reynolds geht in »Retromania« davon aus, dass Popgeschichte längst zur Posthistoire geworden ist. Und in der kann nur noch per Zitat oder Rekurs erzählt, also entweder aufgewärmt oder revitalisiert werden. Fast alles kann sich dabei mit fast allem anderen verbinden, aber nicht jede Verbindung macht auch Sinn (im Sinne des schönen Anglizismus vom Sinn-machen-nichthaben, den alle Reaktionäre so inbrünstig hassen). Ein Unterschied, auf den es dabei ankommt, wäre der zwischen einfachem Reenactment (der nicht totzukriegende Garagepunk als Mittelaltermarkt, der Geschichte eher verstellt als verlebendigt), Zitatwühlkiste (die Gang-of-Four-Pantomimen des letzten Jahrzehnts) und jener Spurensuche, die im Alten nach Möglichkeiten sucht, die (diskursiv, materialästhetisch, lebenspraktisch ??) von diesem selbst nicht realisiert wurden. (Bei Velvet Underground etwa ist das Unentfaltete immer in der ?berzahl gegenüber dem, was wir tatsächlich zu hören kriegen). Auf diese Weise lässt sich dem Dilemma aktueller Retroverhältnisse (deren Ende ich wohl ebenso wenig erleben werde wie den Kommunismus) von der Schippe springen. Für die, die diese Option wählen, ist das Vergangene nicht jener Ort, wo es einmal besser gewesen war, sondern der, an dem es (noch) hätte besser werden können (wie im Coming-of-age-Narrativ); im Prinzip also eine simple Rückprojektion, die sagt: Wo Vergangenheit ist, muss auch Zukunft gewesen sein; wo hingegen nur noch Gegenwart existiert (wie im Spätkapitalismus), wird nichts kommen, dem ich mit Erwartung begegnen müsste. Retro wäre in diesem Fall also eine Sehnsucht nach Zukunft, die weiß, dass irgendwo ankommen nur kann, wer den Rückspiegel richtig eingestellt hat. Daher entwirft er keine authentischen Bilder des Vergangenen, sondern macht es zur Projektionsfläche, die Begehren aufnehmen und Erinnerungen erschaffen kann, an etwas, was so nie existiert hat. »Bei einer Geschichtsklitterung wird vorsätzlich versucht, mit wissenschaftlich unlauteren Mitteln einen falschen Eindruck von historischen Ereignissen und ihrer Interpretation zu vermitteln«, weiß Wikipedia. Dies wäre dann wohl auch die alchemistische Formel für jene utopische Variante von Retro, von der Gruppen wie F.S.K. zumindest eine Ahnung vermitteln.
Post-Beliebigkeit
Je mehr der Wald aber zwischen den Bäumen verschwindet und Geschichte zu Pfützen zerrinnt, desto mehr verschwimmt auch die Bedeutung von Retroteilchen: War James Last jetzt eigentlich der reaktionäre Sound der deutschen Nachkriegsjahre oder doch cooler postdeutscher BRD-Swing ??? – Das Auswählen und Zuordnen fallen zusehends schwerer. Toleranzgefasel und Entspannungspolitik behindern die notwendige Arbeit der Stilpolizei. Wo alles geht, wird es auch leidenschaftslos durchgewunken (wie in der Gratismagazinpopkritik). Das ist das erste Retroproblem. Wir haben es in den 1990ern bereits näher kennengelernt. Die Entspannung und Entkrampfung der 1990er sind aber mittlerweile so weit eskaliert, dass wir uns mit immer ausgefuchsteren Mnemotechniken und Autosuggestionen daran erinnern müssen, dass eben doch nicht alles geht und zusammenpasst, wie es das Eröffnungsstück von »Akt« tut, an dem ein Text klebt, der sich wie ein Erinnerungs-Post-It auf der Kühlschranktüre liest: »Äpfel/Birnen/Nicht zusammen/ Nein Nein /Nein Nein /Sonst reden/die Leute/ über/ postmo/derne/Belieb/igkeit«. Vergessen wir also niemals, dass die Rückwärtsorientierung eine umso härtere Türe benötigt. Was auf »Akt« doch hereingelassen wird, folgt einer klaren Linie bzw. (Tür-)Politik. Muss aber auch noch zurechtgemacht werden, z. B. von jeglicher Sentimentalität entbeint. Der Duktus der neuen F.S.K.-Platte ist trocken und monoton, swingend und doch unentfesselt, wie es sich für Musik zweiter Ordnung gehört. Und immer ein bisschen ??-istisch??, konstruktivistisch zum Beispiel. Ein nüchternes »Don’t cry, work!«. Weder gibt es einschneidende Akkordprogressionen noch andere Anfänge oder Enden als die zufällig gesetzten. Alles rotiert im Loop, der – wie wir lernen – eine materialästhetische Beschwörungsformel ist. Und eine Immanenzidee, die Techno und House entnommen wurde, auch wenn F.S.K. damit wieder Band- bzw. Gitarrenmusik spielen. Und: Sie entspricht dem nachgeschichtlichen Zeitgefühl und -empfinden.
Trackrockgedenkpop
Es gelingt F.S.K. nicht durchwegs, die Zitate und Referenzen an die Kandare zu nehmen. Manchmal kommen sie mir vor wie gelehriges Ornament. Das passiert zum Glück nicht oft und ist vielleicht gar nicht zu vermeiden. Im Prinzip besteht die Kernkompetenz der Gruppe ja darin, im Zusammenprall historisch verschiedener Materialien neue Konstruktionsgesetze zu finden: »Akt« überprüft also vielleicht tatsächlich »das Format Rocksong auf seine Tracktauglichkeit «, wie Didi Neidhart im Info schreibt. Natürlich ist auch der Trackrock bereits historisch, schließlich war er eine von ca. drei konkurrierenden Ideen, die der Postrock so hatte. Als Zitat weist er aber auch zurück an den Ausgangspunkt gegenwärtiger Indifferenz Ende der 1990er, kurz bevor mit der The-Band-Schwemme plötzlich alles zulässig war, bis nichts Verbotenes und Illegitimes, kein Do-not und So-nicht, mehr übrig blieb, um daraus künftige Fluchtlinien aus einer alle Dissidenz verschlingenden Popnormalität zu ziehen. Die Songform im Track zu überwinden, war eine jener Möglichkeiten, die nie wirklich realisiert wurden. Und die vielleicht letzte Umsturzidee der alten Popgeschichte, die nicht nur eine schaffende, sondern vor allem eine wiederabschaffende Kraft sein wollte.
Zweierlei Krautrock
Das zweite, schwerwiegendere Problem von Retro liegt darin begründet, dass sich subkulturelle Retrostrategien strukturell nicht oder immer zu wenig von den hegemonialen unterscheiden. Beide tun das Gleiche: sich z. B. Krautrock aneignen. Im neuen Popdeutschland ist er zum erzählenswerten Bestandteil eigener Popidentität und -geschichte geworden, die seit 1998 verbeamtet und fester Bestandteil der schwarz-rot-goldenen Bewerbungsmappe ist. Und trotzdem unterscheiden sich die Weisen, in denen z. B. F.S.K. von Krautrock sprechen, von jenen, die Dieter Gorny und Sigmar Gabriel für die Sendereihe »Pop 2000« in Auftrag gegeben haben, aber solche Unterschiede sind natürlich zart und zerbrechlich. Ähnlich wie bei Amon Düül sind »Krautrock I« und »Krautrock II« nicht immer leicht auseinanderzuhalten. Zwischen beiden hat sich eine popbildungsbürgerliche Grauzone ausgebreitet, in der auch F.S.K. goutiert wird. Ein Patentrezept, wie damit umzugehen wäre (à la Goethe-Institut-Anfragenboykott), gibt es leider nicht. Auf »Akt« ist der Zwiespalt von Retro in vollem Umfang präsent. Am gelungensten da, wo die eigene Hilflosigkeit ästhetisch einbekannt wird, anstatt so zu tun, als gäbe es autonome Erinnerungen. Die gibt es natürlich nicht, und deswegen braucht es Selbstdistanzierungssubroutinen und Anführungszeichen, die das Zitat kenntlich und ein wenig anstrengend machen. Sie müssen mitgespielt werden, gerade da, wo die Referenz schon keine mehr ist, weil sie sich in die neue Form, die ihm abgerungen wird, aufzulösen beginnt. Dies ist ein weiteres retrospezifisches Problem: Wie kann sich Zitatmusik vor denen retten, die sie genau dafür schätzen? Idealtypisch gab es das bei Stereolab, denen es eigentlich immer um das Wiederaufsprudeln alter Utopien an der ?bertrittsstelle von (sound-)designerischer Innovation und (symbolischer) Umverteilung der Produktionsmittel ging. Breitenrezipiert wurden sie aber als geschmackssichere Zweipunktnullversion von eben: James Last ??
Aktionismus
Textlich gefielen sich F.S.K. auf den letzten drei Platten vielleicht zu sehr darin, gehaltvolle Referenzen runterzubeten. Das hatte dann manchmal den Sexappeal der Neuerscheinungskataloge des Transcript Verlags (die ich immer abzubestellen vergesse). Dem steht auf »Akt« aber der Verweis auf eine andere, handfestere politische Praxis entgegen. »Eine Ohrfeige für Georg Kiesinger«, das einzige Instrumentalstück, zitiert eine Handlung, die als praktische über dem kulturwissenschaftlichen Diskurs, der niemanden stört, solange er sich bloß auf Kongressen verausgabt, hinausweist: Mit ihr markierte Beate Klarsfeld 1968 den deutschen Bundeskanzler als in postnazistische Beschaulichkeit entkommenen Nazi. Ähnlich Explizites hatte es zuvor nur bei »Flagge Verbrennen (Regierung Ertränken)« gegeben (das zwar durch melancholische Soundeinbettung affektreguliert blieb, ohne aber den Affekt als solchen gleich zu verwerfen). An dieser Stelle gefällt mir »Akt« dann doch sehr gut, und mir fällt doch noch ein, woran mich das alles die ganze Zeit erinnert hat: Im Prinzip haben F.S.K. nämlich (was sie vermutlich bestreiten würden) eine Hamburger-Schule-Platte gemacht, knapp fünfzehn Jahre nach deren Bolognaisierung zu Bachelorpop, der nichts mehr fordert außer jenem Volontariat in der neuen deutschen Üffentlichkeitsarbeit, das ihm zusteht. Liegt das nur daran, dass z. B. »Äpfel, Birnen« sich wie eine leicht depressive Version von Blumfelds »Verstärker« anhört? Oder daran, dass deren ergraute Eminenzen Ted Gaier, Mense Reents und Tobias Levin sich die Produktionscredits teilen? Oder ist es doch die (leicht beschönigende) Erinnerung an jene kurze Geschichtssekunde, in der politische Haltung und nerdiges Musikwissen noch miteinander solidarisch waren?
Nachtrag, 17. 06. 2012, 23.32 Uhr: Vermischt mit dem Außenweltlärm, den die Partynationalismuszombies nach dem Dänemarkspiel machen, ist »Akt« übrigens auch ein ziemliches Psychedelicbrett und klingt beinahe wie die frühe Chrome ??
Freiwillige Selbstkontrolle: »Akt, eine Treppe hinabsteigend« (Buback/Indigo)