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Gentle Giant

»Playing the Fool. The Complete Live Experience«

Chrysalis Records

Die britische Prog-Rock-Band Gentle Giant stieg im Mai dieses Jahr anlässlich der erweiterten Wiederveröffentlichung ihres Live-Albums »Playing the Fool. The Complete Live Experience« aus dem Jahr 1977 auf Platz 18 der UK-Charts ein und verblieb dort eine Woche, immerhin. Die Sichtung der Veröffentlichung in diesem Kontext knapp 50 Jahre nach Erstveröffentlichung erschien ähnlich unwirklich wie das Auftauchen von Nessie, dem sagenumwobenen Saurier von Loch Ness. In der kanonisierten Lesart der Popgeschichte hatte Punk ja längst aufgeräumt mit allem, was in den 1970er-Jahren popkulturell die wildesten Blüten trieb, Progressive Rock vor allem anderen. Yes, Genesis & Co. und das ganze ambitioniert-überladene Zeug wurden auf dem Müllhaufen der Popgeschichte entsorgt, wo sie allerdings nicht nur nicht verrotteten, sondern seit ein paar Jahren auch fleißig recycelt und wiederentdeckt werden. Steven Wilson ist damit beschäftigt, u. a. Alben von Jethro Tull und Gentle Giant neu abzumischen, und ich bin mir nicht sicher, ob dies nur dazu dient, einer zunehmend hinfällig werdenden Boomer-Generation die Rente aus der Tasche zu ziehen. Ich habe ganz im Gegenteil den Verdacht, dass Progressive Rock gegenwärtig durchaus ein jüngeres Publikum und nicht nur taubblinde Zeitzeug*innen zu erreichen vermag, denn die Erzählung von Punk als ultimativer popkultureller Wasserscheide hat über die zurückliegenden Dekaden hinweg an Strahlkraft und Plausibilität verloren. Aus historischer Distanz und vor geweitetem musikalischem Horizont erscheinen Gentle Giant in veränderter Perspektive und das unbarmherzige historische Urteil (»kann weg«) ist zu revidieren, denn der Musikalität muss nicht mehr mit dem Vorwurf der verstockten Bildungsbürgerlichkeit begegnet werden, jetzt, wo die Punks selbst im Museum verstauben oder immer noch und leicht bewegungseingeschränkt als Altherrenmannschaft vor nostalgisch gestimmtem Publikum auftreten. Und bevor jemand meint, ich würde mich hier reichlich frech und grob vereinfachend zu Wort melden: Ich weiß genau, wovon ich spreche. Die Rezension an dieser Stelle fungiert als öffentliches Selbstkritik: »Ja, auch ich habe, lange und bis in die jüngere Vergangenheit hinein, lachend auf Prog-Fans im Allgemeinen und in meinem persönlichen Umfeld im Speziellen mit dem Finger gezeigt und sie nicht ernstgenommen. Ich habe sie mit Spott und Häme ob ihrer unmodischen Vorlieben bedacht und ich bereue meine Überheblichkeit, Ignoranz, Kurzsichtigkeit, Geschichtsblindheit und Unwissenheit zum damaligen Zeitpunkt zutiefst.« Besser spät als nie bzw. von heute aus betrachtet erscheinen mir Progressive-Rock-Bands als Ausdruck einer historischen Entwicklungsstufe der Popkultur, so wie ich mir Dinosaurier vor dem Einschlag eines Asteroiden (Punk) vorstelle. Und so wie die Theorie um das Aussterben der Dinosaurier umstritten ist, so wenig muss ich an der Vorstellung kleben, dass Punk hinweggefegt habe, was ästhetisch betrachtet ohnehin außer Proportion geraten war. Ich stehe staunend vor Zeugnissen prähistorischen Lebens, höre »Playing the Fool. The Complete Live Experience« von Gentle Giant und bin beeindruckt von der Virtuosität, Spielfreude und Liebe zum Detail einer fünfköpfigen Live-Band auf der Höhe ihres Erfolgs und ihrer technischen Fähigkeiten. Das Album liegt in einer frisch restaurierten und erweiterten Fassung vor, klingt kristallklar und dynamisch, überbordend vor Ideen und nicht altbacken, auch wenn sich – zugegeben – hier und da der Verdacht des Gymnasialen und Opernhaften nicht ganz ausräumen lässt. Dennoch bzw. es ist ja schon lange kein Geheimnis mehr: Der popkulturelle Zeitstrahl, »Roll over Beethoven, tell Tchaikovsky the news«, ist in seiner linearen Bewegung irritiert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft existieren zeitgleich, simultan. »Playing the Fool. The Complete Live Experience« erscheint wie das Licht eines längst erloschenen Sterns oder ein wiederkehrender Komet am popkulturellen Himmel der Gegenwart und mit den haarsträubenden Metaphern wird es hier im Text langsam zu viel, wie mit den Ideen in den Kompositionen von Gentle Giant. Hilfe!

Home / Rezensionen

Text
Holger Adam

Veröffentlichung
30.06.2025

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