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Gegen das Zuviel: Spurensuche über Feldman heute

Feldmans eigener Beitrag war es, das Tempo der Ereignisse im Wiener Universum zu verlangsamen. Schoenberg war vor allem ungeduldig und musste immer rasch zur nächsten Tonkombination eilen. Feldman hingegen war geduldig. Er ließ jeden Akkord sagen, was er zu sagen hatte. Indem er sich auf so wenig Material beschränkte, setzte Feldman die Ausdruckskraft des die Töne umgebenen Raums frei. Die Rhythmen sind unregelmäßig und überschneiden sich, sodass die Musik über dem Schlag dahinschwebt. Die Harmonien bewohnen ein Niemandsland zwischen Konsonanz und Dissonanz, zwischen Paradies und Vergessen.
Alex Ross: »The Rest Is Noise. Das 20. Jahrhundert hören«. Piper, München/Zürich, 2009, 535.

Foto: Rob Bogaerts/Anefo/wikipedia

Ursprünglich publiziert für Katalog Festival wienmodern, 2010, S. 89--93

Diese Beschreibung des amerikanischen Musikkritikers Alex Ross über Morton Feldman (1926–1987) könnte auch aus einer Rezension zu aktueller Elektronikmusik stammen. Der mittlerweile beinahe klassische Referenzkorpus mit Karlheinz Stockhausen, John Cage, Phill Niblock, LaMonte Young, Terry Riley, Morton Subotnick oder Steve Reich war und ist eine der Inspirationen für avancierte Elektronik, da man sich recht bald über gemeinsame Klang-, Notations- und Raumkonzepte verständigen konnte. Der Sound der amerikanischen Minimalisten drängt sich mit seinen vertrackten Rhythmusverschiebungen schier auf, an Prä-Techno zu denken.
Feldman indes war ein Komponist der »leisen« Töne. Statt sich auf das amerikanische Modernisierungsparadigma zu beziehen, versöhnte er die Minimal Music mit ihrer europäischen Geschichte. Obwohl als Mensch der aufkommenden Populärkultur wahrscheinlich recht zugetan, finden sich in seinen Werken keine Anhaltspunkte dafür, sie als »Pop« zu lesen. Mit seiner Entschleunigung der Zweiten Wiener Schule und klanglichen Kartografierung von Raum setzte er Impulse frei, deren popkulturelle Dechiffrierung sich vor allem über unterschwellige, pragmatische Systeme mitteilt. Feldman ist für die aktuelle Elektronik keine Remix-Matrize – wie etwa bei »Reich Remixed« (Nonesuch, 1999) – sondern die Personifikation einer Ideengeschichte.
Durch Weglassen oder Aussparen emanzipierte er das Intervall den Tönen gegenüber und begriff die darin hörbar gemachte Leere als einen der Hauptproduktionsorte postmoderner Bedeutungsinhalte. Eine Herangehensweise, die, von Gilles Deleuze theoretisch verdichtet, in den Neunzigern zu einem der meistgenutzten Gedankensteinbrüche experimenteller Musik wurde. Er stellt die Brücke zwischen Erik Saties »Musique d’ameublement« und der Ambientmusik von Brian Eno her, Klänge werden zu einem Arrangement imaginärer Gegenstände im Raum.
Seine Konzepte zur Reduktion und Demokratisierung des musikalischen »Außen« waren darüber hinaus im Techno und der Electronica seit jeher präsent, man denke an die ultrapräzisen Rhythmusarchitekturen der Detroiter Produzenten Jeff Mills oder Robert Hood, die mathematischen Komplexitäten von Ryoji Ikeda oder die ambivalenten Soundkaskaden von Francisco López. Eine der konsequentesten Arbeiten zu Feldman findet sich auf der unlängst veröffentlichten, gleichnamigen CD des auf die Aktualisierung von «Klassikern» Neuer Musik spezialisierten Berliner Ensembles Zeitkratzer. Eine Art später geborener Zwillingsbruder Feldmans könnte Charlemagne Palestine sein: Beide entstammen einer jüdischen Familie aus Brooklyn, haben eine Vorliebe für das während ganzer Stücke gedrückte Fortepedal des Klaviers und komponieren rituell anmutende Musik.

 

 

Zeit, Erinnerung, Stille

Feldman’s piano pieces could be described as a surgery for memory. Their organisation over
lengthy durations is compelling, yet the divisions between notes, those absences we call silence,
demand a huge effort of memory in order to retain a grasp of this unfolding structure.

David Toop: »Haunted Weather. Music, Silence and Memory«. Serpent’s Tail, London, 2004, S. 90.

Als ein Bindeglied zwischen den kammermusikalischen Werken Anton Weberns hin zu David Tudor oder John Tilbury war es Feldman, der eine Forschungsreise in das im Raum stehende Klavier unternahm. Seit 1950 mit John Cage befreundet, konnte er aus der wohl kreativsten Phase amerikanischer Musik- und Kunstproduktion der Nachkriegszeit schöpfen. Jackson Pollock wohnte praktisch ums Eck und Andy Warhols Factory war in der Nähe. Ähnlich wie Oliver Messiaen schuf Feldman spirituell aufgeladene Räume (»Rothko Chapel«, 1971; »For Philip Guston«, 1984). Seine Musik ist eine über das Verschwinden, ist eingebettet in einen historischen Diskurs des Schmerzes und des Fremdseins. In seinem Verständnis darüber, Musik in architektonischen oder psychogeografischen Parametern zu denken, lässt sich ein Funktionalismus erkennen, der die eigene Historie gleichzeitig auslöscht wie schärft.
Eine Eigenschaft, die sich ebenso in der Dub-Musik findet. Dub ist die Elektronifizierung des ursprünglich nur zu rituellen Anlässen intonierten Reggae der West-Antillen. Hier wie da geht es um musikalische Diaspora, darum, einen Ort und eine Stimme zu finden. Dub kolonisiert ebenfalls den leergeräumten Raum (»space«) als forschungsleitendes Element, Zeit und Rhythmus organisieren sich gegenseitig. Während Feldman das Klavier zur akustischen Raumerfahrung nutzt, hebeln Produzenten wie King Tubby, Lee »Scratch« Perry, Adrian Sherwood oder Dubstep-Musiker wie Sam Shackleton das Raum-Zeit-Kontinuum mit dem Mischpult aus und kondensieren daraus einen Zustand, den der englische Musikjournalist Kodwo Eshun »Audiohalluzinationen« nennt, welche »die Ohren hinters Licht führen«. — In dem Kapitel mit dem bezeichnenden Titel »Permanent insufficiency of repetition« unternimmt Hegarty einen historischen Abriss popkultureller Repetition, die bei der Proto-Punkband Iggy & The Stooges ebenso Station macht wie bei Velvet Undergrounds Nummer »Sister Ray«, Andy Warhol und eben Feldman und Dub. Vgl. Paul Hegarty: »Noise/Music. A History«. Continuum, London/New York, 2007, S. 69–74.
Von daher ist es nur konsequent, wenn beim von Patrick Pulsinger kuratierten Programm »Feldmanforschung« Moritz von Oswald auftritt. Sein zusammen mit Mark Ernestus betriebenes Projekt Rhythm & Sound hat nicht nur Dub ins 21. Jahrhundert transferiert, sondern indem R & S mit praktisch allen relevanten Reggae-Sängern kollaborierte, wird hier auch veritable Geschichts-forschung betrieben.
Es ist die Stille, die Abwesenheit »konventioneller« Audiophänomene, die Feldmans Musik zu einem nach wie vor aktuellen Kommentar des gesellschaftlichen Gefüges macht. Jeder Ton, jeder Rhythmus hat mit beinahe transzendenter Gewichtung seinen immanenten Platz. Kein Strich zuviel. Jenseits der offenkundigen Parallelen, sich immer fokussierter auf Klang per se zu beziehen um dessen spezifische Raum- und Körperprädispositionen herauszufiltern, steht für Pulsinger Feldmans »Weniger« praktisch diametral zum »Mehr« des Großteils derzeitiger Elektronikproduktionen: »In der elektronischen Musik sind mittlerweile die Produktionsmittel komplett inflationär, jeder kann ohne Vorkenntnisse an einem verlängerten Wochenende eine Platte machen. Diejenigen, die sich schon länger mit Klangästhetik und elektronischer Musik beschäftigen, versuchen, sich davon abzugrenzen, um ihrer künstlerischen Aussage mehr Gewicht zu verleihen. Durch viele historischer Beispiele weiß man: Das funktioniert am besten durch Reduktion. Wer leise spricht, dem hört man genauer zu.«

 



Zu Feldmans Naheverhältnis zur Kunst siehe exemplarisch: The Irish Museum of Modern Art (Ed.): »Vertical Thoughts: Morton Feldman and the Visual Arts«. Ausstellungskatalog IMMA, Dublin, 2010 bzw.: Sebastian Claren: »Woran man sich erinnert. Morton Feldmans Konzeption des instrumentalen Bildes«. In: Sabine Sanio/Christian Scheib (Hg.): »Bilder – Verbot und Verlangen in Kunst und Musik«. Musikprotokoll Katalog, Pfau, Saarbrücken, 2000, S. 123–142.

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Text
Heinrich Deisl

Veröffentlichung
30.10.2013

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