»Mommy, mommy, mommy, look at your son…« Geballter Frust und Zorn auf die Autoritäten, die dir das Leben am unmittelbarsten zur Hölle machen können, mit größter Dringlichkeit in knapp zwei Minuten ausgespuckt – das ist »Dicks Hate The Police«. Viele lernten den Punk-Klassiker erst als Coverversion von Mudhoney kennen. Im Original handelt es sich um den Titeltrack der gleichnamigen Debütsingle der Dicks von 1980. Wort- und stimmgewaltiger Sänger dieser szeneprägenden Band aus Austin, Texas, war Gary Floyd. Der Bandname war da noch harmlos im Vergleich zu den provokanten Performances, die einen ganzen Haufen jüngerer Punks, die selbst noch am Anfang ihres Bühnenschabernacks standen, irritierten und inspirierten. Stichworte: Rinderzunge, Leber aus der Unterwäsche, ein ins Publikum geschleuderter Mehlsack sowie mit Mayonnaise gefüllte Kondome. Die Butthole Surfers zollten Gary Floyd mit dem gleichnamigen Song schon 1984 Tribut. Und David Yow bekannte: »They were fun and at the same time very intimidating. The Dicks changed my life.«
Noch wichtiger als die – nun ja – Showeinlagen waren die klaren politischen Positionierungen der Dicks. Gary Floyd war einer der wenigen offen schwul lebenden Punkmusiker – nicht nur in Austin, der »liberalen Oase« von Texas. Ebenso wie (und zuweilen auch gemeinsam mit) Randy »Biscuit« Turner (1949–2005) von den befreundeten Big Boys trat er manchmal in Drag auf: ein veritabler Punk-Divine. Der Dritte im Bunde queerer Frontmen war (der glücklicherweise noch sehr lebendige) Dave Dictor von MDC. 2005 huldigte er Gary Floyd mit dem Song »Girls Like You Make Me Queer«. In Reagans Amerika im Allgemeinen sowie in Texas im Speziellen kam es freilich auch besonders gut an, Hammer und Sichel im Bandlogo zu führen. Die meisten Songs des Dicks-Debütalbums »Kill From The Heart« (von Spot produziert, SST, 1983) sind mit ihren Titeln und Texten antifaschistische, antiklassistische Kampfansagen: »Anti-Klan«, »Rich Daddy«, »No Nazi’s Friend«, »Bourgeois Fascist Pig«. Es tut verdammt gut, sich diese Nummern auch 2024 wieder mal in voller Lautstärke reinzuziehen.
Von den Dicks zu Sister Double Happiness
1983 übersiedelte Gary Floyd von Austin nach San Francisco und stellte eine neue Version der Dicks zusammen. Passenderweise erschien das zweite Album »These People« (1985) auf Jello Biafras Alternative-Tentacles-Label. Der sorgte dankenswerterweise auch für die Re-Releases des Dicks-Materials in den letzten 15 Jahren. Musikalisch gereift entfaltet sich Gary Floyds beachtliches Stimmvolumen in einigen Songs zum ersten Mal in vollem Ausmaß. Nicht nur ein Shouter, sondern ein veritabler Bluesman. Der Blues, das war auch die Musik, mit der der 1952 geborene Floyd vor Punk aufgewachsen war. Aber wie so manches in seiner Diskografie blieb auch »These People« viel zu unbeachtet bzw. unterbewertet. Zu »soft« für dogmatische Hardcore-Punks, zu unbequem für College-Folks, die maximal R.E.M. mochten. Beachte z. B. die Texte von »George Jackson«, »Off-duty Sailorg« etc.
Irgendwann verwandelten sich die San Francisco Dicks mit Floyd und Schlagzeugerin Lynn Perko in Sister Double Happiness (SDH). Das gleichnamige Debüt erschien 1988 wieder auf SST. Gary Floyd wurde endlich auch in Europa zur Kenntnis genommen. Bezeichnenderweise begann Diedrich Diederichsen seine Rezension des Debüts mit einer Exklamation: »Diese Stimme!« Allerdings folgten keine größeren Aktivitäten seitens der Band. SDH wurden in Standby-Modus versetzt, Floyd ging für ein Jahr nach Indien. Anfang der 1990er schienen es Karma und sonstige Umstände gut mit dem undogmatischen Hinduisten zu meinen. SDH wurden revitalisiert und erweckten Majorlabel-Interesse. SDHs bzw. Gary Floyds einziges Majoralbum »Heart And Mind« (1991) hat zwar einen für damalige Radiokompatibilität domestizierten Sound, aber erstklassige Songs. Und ominöse »Radio Blips« von John Cale.
Textlich machte Floyd keinerlei kommerzielle Zugeständnisse, wenn es ums Anprangern von Krieg (»Dark Heart«) und Polizeigewalt ging: »And it’s the hottest day of the year, the sun is just dripping from the sky. And the big black boots of the police are dying to stomp some sense into you. And isn’t that a shame…« Musikalisch muss auch an zwei fantastische Coverversionen aus jener Zeit erinnert werden: »Two-Headed Dog« von Roky Erickson und »Holiday In Cambodia« von den Dead Kennedys. SDH waren vielleicht nicht so radikal lebensverändert, wie es David Yow für die Dicks reklamiert hatte. Aber auf einigen Europatouren verströmten sie auch hierzulande jede Menge inspirierende Lebensfreude. Und mit »Heart And Mind« hatte auch meine persönliche Faszination für Gary Floyds Musik begonnen.
»In a deep and dark September«
Mit diesen Worten beginnt »Honey Don’t«, einer der vielen Höhepunkte auf dem dritten und vielleicht besten SDH-Album »Uncut«. Auf jeden Fall eines, das vermutlich nicht nur mir beim Bewältigen pubertärer Untiefen half. Strahlender Lichtblick in jenem September 1993 war das Konzert am 15. des Monats in der Szene Wien. Als ich mit einem Freund angekommen war, verklangen gerade die letzten Soundcheck-Töne. Vielleicht war’s »Sweet Talker«, einer ihrer »Hits«; hätten sie auch nur annähernd den kommerziellen Erfolg gehabt, der ihnen musikalisch in Grunge-Zeiten mit zwei Alben via Sub Pop Europe vergönnt gewesen wäre.
Jedenfalls saßen Gary Floyd und Co. danach Suppe löffelnd im Garten der Szene. So unprätentiös down to earth, wie man es sich Punk-ethisch von echten »Anti-Heroes« vorgestellt hatte. Rainer Krispels Schwester waren nicht nur aufgrund des Bandnamens ein passender Support. Und SDH zum ersten Mal live erlebt zu haben, kam damals einer kleinen Offenbarung gleich. Ehrfürchtig nahm ich am Merch-Stand ein Longsleeve aus Lynn Perkos Händen entgegen. Mit dem stilisierten Herzsymbol sollte es unter all den einschlägigen Bandshirts mit typischen Totenkopfmotiven mein einziges »mit Herz« bleiben. Auch das Konzert in der schneeverwehten burgenländischen Cselley Mühle am 3. Dezember 1994 sowie Gigs der Gary Floyd Band im Wiener Chelsea bleiben unvergesslich.
SDH lösten sich nie offiziell auf; wurden aber – ähnlich wie Fugazi – auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. SDH waren in Europa erfolgreicher als in den Staaten. Und das sollte in der zweiten Hälfte der 1990er auch für die Gary Floyd Band gelten, deren Alben auf Glitterhouse original nur in Europa veröffentlicht wurden. Zumindest »World Of Trouble« sollte man gehört haben. Weg vom SDH-Power-Bluesrock konzentrierte sich Gary ganz auf Blues, Country und Folk; inklusive einigen Traditionals, die die Generation X auch über den späten Johnny Cash kennengelernt hatte.
»And when the lightning strikes, I know Mother’s there«
Am Ende des Millennium bekam Gary Floyd wieder Lust auf härtere Gitarrenklänge und taufte die neue Band Black Kali Ma: in Anlehnung an die indische Göttin, die nicht nur Zerstörung des Alten, sondern auch Schöpfung des Neuen symbolisiert. »You Ride The Pony (I’ll Be The Bunny)« erschien 2000; zurück auf Alternative Tentacles. Es sollte leider das einzige Album bleiben – aber was für eines! Damals viel zu wenig beachtet, rotierte es über die Jahre regelmäßig auf meinem Plattenspieler. Die Essenz der späten Dicks und SDH in zehn Songs: Powerchords, heavy Bluesrock, der Punk nicht verleugnet und auf einprägsame Melodien nie vergisst. Alles von dieser einzigartigen Stimme in Hochform zusammengehalten. »Wonderful« darf sogar Bowies »Heroes« zitieren. In »Movin’ On« und »Roll Back Home« thematisiert Floyd wieder mörderische Homophobie, Rassismus und soziale Ausgrenzung. Aber auch eine Prise Ironie darf nicht fehlen; wenn es etwa in »Remain Awesome« heißt: »I saw you ride naked at the rodeo. All of the other cowboys looked at you… even those big horses looked at you.«
In den letzten 20 Jahren trat Gary Floyd meines Wissens leider nicht mehr in Europa auf. Er widmete sich u. a. auch der Malerei. Von 2007 und 2018 gibt es Aufnahmen, die er mit Gary Floyd And The Buddha Brothers einspielte. Auch die verbliebenen Ur-Dicks Gary, Buxf Parrott und Pat Season (Gitarrist Glen Taylor war 1997 verstorben) fanden sich immer wieder für ein paar Konzerte zusammen. 2015 wurde die Dokumentation »The Dicks From Texas« veröffentlicht. Gary Floyd, der öfters mit Gesundheitsproblemen zu kämpfen hatte, verstarb nun nach langer Krankheit am 2. Mai 2024 an Herzversagen. Ein großes Herz hörte auf zu schlagen. Seine großartige Stimme wird uns auch weiterhin Trost spenden.