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Fraktale Sound-Architektur im Stadtraum von Istanbul

Das Format Straßenmusik dockt an einen visionären Entwurf an. Heraus kommt eine Street-Sound-Performance anlässlich der Eröffnung einer skulpturalen, begehbaren Architektur zur Umsetzung spatial organisierter Kompositionen.

Mai 2010, mitten im Stadtraum von Istanbul: »The Morning Line«. Eine modular aufgebaute Struktur, die Raumzusammenhänge andeutet, nach au&szligen hin aber dennoch offen bleibt. Hier werkt Lee Ranaldo an seiner Gitarre. Es ist die zum Sonic-Youth-Markenzeichen avancierte blaue Fender »Lee Ranaldo Jazzmaster« mit den extrabreiten Tonabnehmern. Sie fungiert hier als Soundgenerator und hängt, nein, kreist in zunehmender Geschwindigkeit mit einem Seil, befestigt am Wirbelkasten an einem der fragmentarisch wirkenden, nach oben gerichteten Ausläufer der ornamentalen Skulptur. Symbolisch wie real intensiviert sich die Feedback-Kommunikation mit einer Batterie rundherum in der offenen Architektur verborgen platzierter Speaker. Die überschaubare Runde des Publikums dehnt dazu unwillkürlich seinen Radius aus.

Neben der handlichen Monitorbox hat Ranaldo sein elektrotechnisches Reisegepäck verkabelt. Unter den abgetretenen Pedals: Delay und Moogerfooger Ringmodulator. In Bereitschaft au&szligerdem Drumsticks und Streicherbogen zur späteren Malträtierung seiner Gitarre. Was passiert, evoziert natürlich automatisch die ganze Geschichte von Entgrenzungen, die sich über diese Sound-Maschine des Rock bündelt. Zugleich lässt diese Performance auch wieder genau diese Geschichte vergessen, weil die Ströme doch wieder in eine andere Richtung weisen.

Genauso fliegend, schwebend, kreisend wie sich das blaue Ding im Raum bewegt, verschieben, verdichten und überlagern sich beschleunigte, surrende, flächige Sound-Schichtungen verschiedener Tonhöhe, während sich in Sichtweite – scheinbar tonlos – Kolonnen gelber Taxis über die nahe Galata- Brücke durch das nächtliche Istanbul wälzen. Ort der Performance ist nämlich der weitflächige Eminönü Meydan?, einer der ältesten Plätze der Megacity am Bosporus. Am Südufer des Goldenen Horn gelegen eröffnet sich von hier aus der Blick in Richtung des Szeneviertels Beyoglu auf der anderen Seite des Wassers, während der berühmte Gewürzbasar und einige prominente Moscheen das Viertel in unmittelbarer Nähe kennzeichnen. Es ist also einer jener Orte Istanbuls, an dem traditionelle Zeichen und urbane Gegenwart einander wie selbstverständlich überlagern. Die ornamentalen Bauteile der in kontraststarkem Schwarz sich entgegen den Prinzipien linearer Geometrie unregelmä&szligig ausbreitenden Teile der Skulptur wirken hier wie Bindeglieder zwischen den Kulturen und Geographien.

Anlässlich der Eröffnung der Sound-Architektur spielte Ranaldo sein Stück »Maelstrom for the Morning Line« live in den Speicher der mit einem System von fünfzig Lautsprechern verbundenen Software der Klangarchitektur ein. Als einer von insgesamt siebzehn MusikerInnen und KomponistInnen, die von Russel Haswell und Florian Hecker eingeladen wurden, für die sich fraktal nach au&szligen hin erweiternde Architektur »The Morning Line« nach einem Entwurf des Malers Matthew Ritchie gemeinsam mit dem Architekturstudio ArandaLasch und dem Konstruktionsbüro Arup AGU topografisch wahrnehmbare Kompositionen zu entwickeln. Das Projekt wurde im Kontext der Reihe der »Art Pavillons« der Thyssen-Bornemisza-Stiftung im Lauf von mehr als drei Jahren entwickelt und als eines der wenigen zeitgenössischen, Richtung weisenden Konzepte in den Zusammenhang von Istanbul 2010 eingebracht.

Ein Motto lautete: »Going to the limits«. Die Grenzen dessen erreichen, was aktuell auf diesem Gebiet möglich ist. Sowohl als Intervention im öffentlichen Raum wie auch im Bereich gegenwärtigen musikalischen Denkens. Gleichsam als Musikprogramm inmitten des urbanen Zusammenhangs laufen die einzelnen Kompositionen von C. M. v. Hausswolff, Jónsi & Alex, Cevdet Erek, Bruce Gilbert, Chris Watson oder Jana Winderen nämlich täglich im Intimbereich von »The Morning Line« auf dem Eminönü Meydan?. Unwillkürlich wird das näherkommende Publikum involviert, da es beginnt die Bündelungen und Veränderungen der nach Raumkoordinaten angelegten Musikstücke durch einen Wechsel des Standpunktes zu erwandern. Vor dem Hintergrund ähnlich signifikanter – aber abgeschlossener – Architekturen, wie dem berühmtem Philips Pavillon 1958 in Brüssel oder dem Kugelauditorium von Fritz Bornemann nach Ideen von Karlheinz Stockhausen 1970, erarbeiteten die MusikerInnen ihre Raumkompositionen gemeinsam mit dem britischen Tontechniker und Musiktheoretiker Tony Myatt vom Music Research Centre der University of York. Denn nur in allerhöchster Präzision umgesetzt funktionieren solche Konzepte. Als auditive Zone der Intensivierung und des aktiv Sich-Treiben-Lassens, während das Treiben der Megacity Istanbul rundherum sich zum Film verdichtet.

»The Morning Line«

Eminönü Square Istanbul, bis 19. 9. 2010

www.en.istanbul2010.org/PROJE/GP_659314

www.tba21.org/program/current/83/artworks2?category=current

Home / Kultur / Kunst

Text
Roland Schöny

Veröffentlichung
26.09.2010

Schlagwörter

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