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Fletcher Tucker

»Kin«

Gnome Life

»Kin« bezeichnet im Englischen die Verwandtschaft, die Zugehörigkeit. Fletcher Tucker adressiert in diesem Sinn die Natur um ihn herum und das Mensch-Sein, nicht in ihr, sondern mit ihr. Springt man also über seinen Schatten und lässt sein anthropozentrisches Weltbild hinter sich, dann öffnet sich die Wahrnehmung für das vorliegende Album, das dem Genre nach unter New Age einsortiert werden kann. In Big Sur, Kalifornien, der Wiege des New Age, lebt Fletcher Tucker und ist dort viel zu Fuß unterwegs. Er erforscht seine äußere und innere Natur und seine Musik und die dazugehörigen Texte sind ein Dokument dieser Wanderungen. Zum Ausdruck kommt ein animistisches Weltverhältnis, die Annahme von allumfassender Beseeltheit, dem Leben aller sichtbaren (und unsichtbaren) Dinge. So aufgefasst, kann Natur nicht beherrscht werden, sondern ein durch gegenseitigen Respekt gekennzeichnetes partnerschaftliches Verhältnis wird angestrebt. Wir betreten hier in der Rezeption dünnes Eis, es schmilzt uns ja ohnehin an den Polkappen weg, und mit Blick auf die gegenwärtigen und zukünftigen klimatischen Veränderungen und damit einhergehende katastrophalen Wetterlagen wird deutlich, dass die Natur, als Subjekt aufgefasst, »zurückschlagen« kann und die Menschheit eine auf lange Sicht unterlegene Stellung in diesem Naturzusammenhang einnehmen wird. Auch davon kann Fletcher Tucker ein Lied singen, denn die in Kalifornien wütenden Feuer haben in der Vergangenheit auch ihn schon erreicht. Will sagen: Das esoterisch, abseitig oder versponnen anmutende Anliegen des Albums ist im Grunde genommen ein Thema für alle. Die Form, in der es zum Ausdruck kommt, mag sehr speziell erscheinen, aber das ist eine Frage des Geschmacks bzw. der Hörgewohnheiten. Mittels ruhiger und sachte rhythmisierter Klänge und darin gemurmelter Texte nehmen die Aufnahmen den Charakter eines Gebets, einer Meditation an. Sie dient der spirituellen Versenkung im Dasein, der Vergegenwärtigung des Aufgehoben-Seins in der Natur und der Auflösung des Egos darin. Bevor jetzt die Stirn in Falten gelegt wird – sicher, vom Beten oder Bäume Umarmen alleine wird die Welt nicht gerettet, aber das ist eben auch der wunde Punkt. Vielleicht gibt es (auf lange Sicht) keine Rettung. Jenseits des Aktivismus gehört zu den (vorübergehend) lebenserhaltenden Maßnahmen die Notwendigkeit zur Akzeptanz bestimmter nicht (mehr) abwendbarer Sachverhalte. Klimaziele werden von den hochentwickelten Industrienationen zwar postuliert, aber nicht eingehalten. Die Folgen davon stehen der Menschheit, die sich nicht leugnend zum Thema verhält, schon jetzt vor Augen. Daraus folgt, Wege zu finden, sich – neben allem notwendigen Aktivismus – auch zu arrangieren und einzurichten in einem notwendigerweise veränderten Weltverhältnis und es schadet in diesem Zusammenhang nicht, in sich bzw. in die Natur zu gehen und ihr (und darin sich selbst) anders zu begegnen. Eine spirituelle Praxis ist sozusagen integraler Bestandteil jedes nachhaltigen Krisenmanagements. Das weiß hierzulande jede Yoga-Lehrerin. Aber das Einüben von solchen Selbsttechniken dient nicht nur oder ausschließlich dem Selbsterhalt. Hier gerät eine gewisse Finsternis ins erleuchtete Bewusstsein, denn die Akzeptanz des Unabwendbaren schließt die Gewissheit des eigenen (und möglichen kollektiven) Untergangs mit ein. Dieses apokalyptische Motiv ist in »Kin« ebenso anwesend wie die Motivation zum gewaltfreieren Miteinander. Alles hat seine zwei Seiten, no one here gets out alive, bleibt die Frage, wohin dann? Man kann spekulieren, wissen kann man es nicht. Die auf »Kin« zum Einsatz kommenden Klangschalen, Flöten und Glöckchen mögen vordergründig beruhigend wirken, aber die sanften Klänge bringen auch beunruhigende Gewissheiten mit sich bzw. zielen sie darauf ab, sich dem, was ohnehin kommen wird, anders zu stellen. Um es noch einmal anders zu wenden: New Age als Genre sieht sich aus vermeintlich aufgeklärter Perspektive oft der Lächerlichkeit preisgegeben, aber so sehr Kritik an Esoterik und Obskurantismus auch angebracht sein mag, selbst sich progressiv-säkular inszenierende Popmusiker*innen bemühen sich um klimaneutrale Tourneen … Insofern, es ist alles nicht so einfach mit den Zuschreibungen und geäußerten Verdachtsmomenten. Und gerade darum ist es interessant, sich mit »Kin« auseinanderzusetzen. Fletcher Tucker meint es ernst und sein ästhetisch-spiritueller Versuch der Vermittlung eines adäquaten Standpunktes gegenüber dem, was der Fall ist und sein wird, ist – in jeder Hinsicht – hörenswert. 

Home / Rezensionen

Text
Holger Adam

Veröffentlichung
21.08.2025

Schlagwörter

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