Im schönen oberösterreichischen Städtchen Braunau am Inn wurden 1945, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, auf vorbildliche Weise zahlreiche nach Nationalsozialisten benannte Straßen und Plätze umbenannt. So unter anderem der Adolf-Hitler-Platz und die Adolf-Hitler-Straße, die Baldur-von-Schirach-Straße, die Wöhlerstraße (nach Otto Wöhler), die Fritz-Todt-Straße, die Walter-von-Reichenau-Straße und die SA-Straße, um nur einige zu nennen. Eine der Umbenennungen wurde dabei offenbar übersehen und könnten im Jahr 2020 vonseiten der Stadtgemeinde Braunau korrigiert werden. Die nach Ernst Udet, einem deutschen Jagdflieger des Ersten Weltkriegs und Generalluftzeugmeister der NS-Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg benannte Straße wurde im Oktober 1945, d. h. nach Kriegsende, ausgerechnet in Josef-Reiter-Straße umbenannt.
Der 1862 in Braunau geborene Komponist, Dirigent und Musikpädagoge Josef Reiter war u. a. von 1908 bis 1911 Leiter des Salzburger Mozarteums sowie von 1917 bis 1918 Kapellmeister am Hofburgtheater in Wien. Bereits seit 1929 (!) illegales NSDAP-Mitglied, widmete er seine »Goethe-Symphonie« Adolf Hitler und komponierte 1938 u. a. die Kantate »Festgesang an den Führer«. Er kandidierte Anfang der 1930er-Jahre für die NSDAP, übersiedelte 1933 in den wenige Kilometer südwestlich von Salzburg gelegenen Ort Bayerisch-Gmain und wurde 1937 deutscher Staatsbürger. Als Träger des Goldenen NSDAP-Ehrenzeichens verlieh Hitler ihm anlässlich des 75. Geburtstages die Goethe-Medaille, überreicht durch Joseph Goebbels.
Kurz vor Kriegsbeginn, im Juni 1939, verstarb Josef Reiter, der sich davor auch für den Anschluss Österreichs stark engagiert hatte. Sein Ehrengrabstatus auf dem Wiener Zentralfriedhof wurde 2004 aberkannt. Ebenso wurde das im August 1938 verliehene »Ehrenbürgerrecht der Gauhauptstadt Salzburg« vom Salzburger Gemeinderat 2014 widerrufen. Braunau könnte diesem Beispiel folgen und anstelle von Josef Reiter einem Opfer des Nationalsozialismus die kommunale Ehre einer Straßenbenennung zuteilwerden lassen. Memory Gaps möchte die Stadtgemeinde bei der Namensfindung unterstützen und schlägt drei Opfer des Nationalsozialismus als Namensgeber*innen vor. Sie waren ebenfalls österreichische Komponist*innen und wurden von den NS-Schergen ermordet.
Viktor Ullmann
Viktor (Victor) Ullmann (*1. Jänner 1898 in Teschen (Cieszyn), Österreich-Ungarn; † 18. Oktober 1944 in Auschwitz-Birkenau) war ein österreichischer Komponist, Dirigent und Pianist. Aus einer zum katholischen Glauben konvertierten jüdischen Familie stammend, besuchte er ab 1909 das ehemalige Gymnasium in der Rasumofskygasse in Wien, studierte nach dem Ersten Weltkrieg u. a. bei Arnold Schönberg und Alexander von Zemlinsky und war u. a. in Prag und Zürich als Kapellmeister und Komponist tätig. Am 8. September 1942 wurde er in das Ghetto Theresienstadt deportiert, wo er unter größten Entbehrungen weiter komponierte. Von dort wurde er am 16. Oktober 1944 in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert und kurz nach seiner Ankunft, am 18. Oktober 1944, ermordet. Zahlreiche seiner Werke gingen verloren, die »Theresienstädter-Kompositionen« blieben jedoch nahezu vollständig erhalten. »Oster-Kantate« lautet der Titel von Viktor Ullmanns 1936 komponiertem Op. 15, einer Kantate für gemischten Chor und 6 Instrumente.
Marcel Tyberg
Marcel Tyberg (* 27. Jänner 1893 in Wien; † 31. Dezember 1944 in Auschwitz-Birkenau) war ein österreichischer Komponist. Aus einer Musikerfamilie stammend, war er nach seinen Studien in Wien als freischaffender Komponist in den 1920er-Jahren tätig, fallweise auch als Pianist, Dirigent und Musiklehrer. Nach dem Tod seines Vaters lebte er mit seiner Mutter in Opatija. In dem unter deutscher Militärverwaltung stehenden Gebiet an der Adria wurde er 1944, aufgrund der Tatsache, dass ein einziger seiner Urgroßväter Jude gewesen war, verhaftet und in das in einem Vorort von Triest gelegene KZ San Sabba und von dort weiter in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Marcel Tyberg wurde mutmaßlich gegen Ende des Jahres 1944 ermordet.
Josefine Winter
Josefine Winter, (* 21. Dezember 1873 in Wien, † 20. Jänner 1943 im Ghetto Theresienstadt), war eine österreichische Komponistin jüdischer Herkunft. Die auch schriftstellerisch und malerisch tätige Josefine Winter erhielt ihre Ausbildung samt Klavierunterricht durch Privatlehrer, denn sie durfte als Frau nicht studieren. Sie wurde Kompositionsschülerin bei Josef Bohuslav Foerster am Neuen Wiener Konservatorium, einer privaten Musiklehranstalt. Mithilfe ihres Vermögens (sie war die Tochter des Industriellen und Politikers Rudolf Auspitz), unterstützten sie und ihre Familienangehörigen u. a. Kinderheime und Krankenanstalten. Im Alter von 69 Jahren wurde sie am 14. Juli 1942 vom Aspangbahnhof in das Ghetto Theresienstadt deportiert. Wenige Monate später verstarb Josefine Winter, laut Totenbuch Theresienstadt am 20. Jänner 1943.
Nach Josefine Winter, Marcel Tyberg oder auch nach Viktor Ullmann könnte die Josef-Reiter-Straße in Braunau am Inn umbenannt werden. Denn die kommunale Ehrung mittels Straßenbenennung bezieht sich stets auf die gesamte Persönlichkeit eines Menschen, seine Leistung, Haltung und Lebensführung.
Memory Gaps ::: Erinnerungslücken ist eine digitale Kunstinitiative, die 2015 von der Malerin Konstanze Sailer gegründet wurde und sämtlicher NS-Opfergruppen, insbesondere ermordeter jüdischer Künstler*innen, gedenkt.