Entromantisierung bedeutet weder hier noch in anderen Kontexten gleichzeitig auch Entsinnlichung. Ganz im Gegenteil. Wo das Romantische, im Sinne des heutigen Sprachgebrauchs von träumerischer Rückwärtsgewandtheit, auf vertraute und konventionalisierte Muster zurückgreift und es zum Verständnis dessen einer gewissen gemeinsam geteilten Geschichte bedarf, kontaktiert das rein Sinnliche die Synapsen des Rezipienten direkt ohne Umwege über vorgefertigte Interpretationen. Wo Romantik heute Altes aufwärmt, wird beim rein Sinnlichen frisch zubereitet. Dabei bedeutete der Begriff Romantik ursprünglich Ende des 18. Jahrhunderts gerade die Abkehr von gewohnten Strukturen, damals klassischer antiker Ästhetik und Denkweise, und eine Hinwendung zur eigenen ursprünglichen Kultur der damaligen Zeit. Es galt, die geläufige lateinische Kunst und Kultur des antiken Roms mit der romanischen Kultur – entsprungen aus dem »Geist der mittelalterlichen Ritterdichtung« – zu ersetzen.
Die Bedeutung des Begriffs Romantik hat sich seit damals somit diametral geändert und hat heute mit seinen Ursprüngen kaum noch etwas gemein. Der damalige Blick in die nahe Zukunft eines 19. Jahrhunderts ist heute ein Blick in die ferne Vergangenheit eben dieses. Der heutige Begriff von Romantik wäre vermutlich von den damaligen Protoromantikern als altbacken verteufelt worden. Vielleicht könnte man deshalb Autechre als Neoromantiker unserer Zeit deuten, die versuchen, im Sinne der klassischen Romantiker alte verfestigte Strukturen zu durchbrechen, um etwas Neues freizulegen. Das richtig Neue entsagt bekannten Mustern und ist damit eine rohe Tatsache, die erst isoliert erkannt, evaluiert und dann einer Sinnhaftigkeit zugeordnet werden muss. Denn »Sinn« ist ein Wert, der, wenn ihn ein Gedanke annimmt, zu etwas wird, was über dem Denken steht, nämlich Bedeutung, so der Philosoph, Mathematiker und Wegbereiter der Programmiersprachen Gottlob Frege. Die Konfrontation mit rohen Tatsachen, die vom Hörer selbst erst entschlüsselt und zu Sinnmustern geformt werden, ermöglicht es, ganz neuartige Bilder der Bedeutung zu evozieren. Autechre geben somit viel Arbeit an ihr Publikum ab. Nur ab und zu schimmern im neuesten Werk noch Restbestandteile von verträumter Romantik durch.
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Nach dem zweistündigen Werk »Exai« (2013) und dem vierstündigen »Elseq« (2016) konfrontieren uns Autechre 2018 mit einem achtstündigen Klangepos, das den pragmatischen Titel »NTS Sessions 1–4« trägt. Die digitale Veröffentlichung von neun etwa einstündigen Live-Sets aus den Jahren 2014 und 2015 sei hier nur am Rande erwähnt. Das Internetradio NTS nämlich lud die beiden Herren Rob Brown und Sean Booth im April dieses Jahres zu einer Residency. Das Ergebnis sind vier je zweistündige Sessions, die sukzessive im wöchentlichen Takt veröffentlich wurden. Zusätzlich erfolgt bis zu diesem Sommer auf Warp Records ein physischer Release dieses Werkes sowohl auf acht CDs als auch viermal drei LPs. Eine entsprechende 12-LP-Box ist hier bereits vorbestellbar.
Man hat den Eindruck, dass die beiden Briten mit ihren epochalen Releases jede Sekunde der Weiterentwicklung mit uns teilen wollen. In der Tat lässt sich die Entwicklung zu ihrem neuesten Werk über dessen vorangegangene Klangexkursionen nahezu Schritt für Schritt nachvollziehen. Die Ära der Dekonstruktion bekannter Muster aus dem Genre-Bereich IDM scheint vorbei zu sein. Alle Teile wurden bis auf die kleinsten elementaren Bausteine zerlegt und werden nun neu zusammengestellt. Dass Autechre an der Entwicklung einer eigenständigen musikalischen Sprache arbeiten, ist nicht neu. Die zunehmende Tendenz, künstlich erzeugte phonetische Elemente und akustische Attribute von gesprochener Sprache aufzunehmen, ist jedoch ein Novum der letzten Jahre und erhält insbesondere auf dem nun vorliegenden Release verstärkt Ausdruck. Teilweise klingen die beeindruckenden Ergebnisse wie die Versuche von Systemen künstlicher Intelligenz bei der Entwicklung einer eigenen gesprochenen Sprache, was beim Hören durchaus zu einer stattlichen Piloerektion führen kann.
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Stream: Autechre – NTS Session 1
Einer der aufregendsten sowie beeindruckendsten Tracks findet sich auf dem ersten Teil der Serie. Der Track »l3 cntrl« klingt wie die akustische Interpretation einer intergalaktischen Landkarte, gesandt von einer außerirdischen Spezies, die die Position ihrer Welt in gasdruckkodierter Form mitteilt. Passt man diese fremden Impulsinformationen auf das Gasgemisch und den Druckgegebenheiten der Atmosphäre unseres Planeten an, kommt man zu diesem akustischen Erlebnis. Der Track startet komplex, die Position im Universum wird grob bestimmt, der Zielbereich zusehends eingegrenzt und man wird an einer unglaublichen Anzahl an Galaxien, Sternenhaufen und galaktischen Nebeln vorbeigeführt. Mit der stetigen Reduktion von Komplexität über den fast siebzehnminütigen Lauf des Tracks wird die Positionsbestimmung immer präziser und das Ziel rückt näher. Gleichbleibende rhythmische Elemente bilden den Maßstab für kosmische Längeneinheiten – vermutlich basierend auf einer universellen Konstante, dem Planckschen Wirkungsquantum gleich; Wellenlängen und Amplituden der Frequenzen stellen räumliche Bezüge zur Orientierung dar. Sich über Millionen von Jahren ändernde Raumkrümmungen durch Masseverschiebungen werden hier durch variable Reverb-Räume ausgedrückt. Am Ende erreicht man den unbekannten Planeten »l3« in einem fernen Sonnensystem. Die Komplexität nimmt weiter ab. Die letzten Klanggebärden dieser akustischen Kartografie erinnern wieder an künstlich generierte gesprochene Sprache. Aber ob es sich hierbei um zweifelhaft friedliche Willkommensgrüße à la Kurt Waldheims Voyager Sonden-Message oder um dezidierte Warnungen handelt, kann wohl nicht entschlüsselt werden.
Stream: Autechre – NTS Session 2
Mit dem Titel »violvoic« machen Autechre ihre Absicht klar, dass der Vergleich mancher Tracks der NTS Sessions mit gesprochener Sprache nicht abwegig ist. Das fünfzehnminütige Monstrum knattert und knarzt vor sich hin und erweckt den Anschein, als wolle es uns etwas Wichtiges mitteilen. Dieser Kommunikationsversuch scheitert jedoch. Was von dieser Sprache für uns zugänglich ist, sind ihre durchaus hörenswerten akustischen Stimmenfragmente, von denen der eigentliche Sinn – durch fehlende Konvention und/oder unzureichende Ausdrucksweise – nicht verständlich gemacht werden kann. Aber vielleicht sind »wir« auch nicht die Adressaten der Informationen, die sich hinter dem akustischen Gerüst verbergen mögen. Den stärksten Verweis auf Autechres romantischere und teilweise verträumter klingende Vergangenheit macht der Track »e0«, der an Stücke aus deren stilistisch noch wesentlich konventioneller gehaltenem Album »Amber« aus dem Jahr 1994 erinnert. Die NTS Session 2 schließt mit dem fulminanten, düsteren Ambient-Stück »turbile epic casual, stpl idle«, das einem das Gefühl vermittelt, schwerelos in einer gewaltigen dunklen Höhle zu schweben. Einzelne Klangfetzen verlaufen sich in unendlichen Reverb-Räumen und breiten sich in alle Ewigkeit – hier immerhin etwas mehr als zwanzig Minuten – aus.
Stream: Autechre – NTS Session 3
Der Track »nineFly« versucht uns ebenfalls etwas zu erzählen. Am Anfang durch dunkle Energien zurückgehaltene Chimes-Sounds werden bis zum Schluss immer verständlicher und lassen sogar konventionellere Harmoniestrukturen durchscheinen. Fragmente, die lose an Beats erinnern, mäandern hier um die gegeneinander ringenden Chimes- und Bass-Sounds herum. Tracks wie »icari«, »tt1pd« oder »fLh« erinnern unter anderem durch ihre Rhythmuselemente eher an Teile des Vorgängeralbums »Elseq«. Dadurch wirkt Teil 3 dieser Sessions im Vergleich am vertrautesten, aber auch am wenigsten fortschrittlich.
Stream: Autechre – NTS Session 4
Mit nur fünf dafür umso ausgedehnteren Tracks schließen Autechre ihr Opus magnum ab. Auch der vierte Teil wird den hohen Erwartungen mehr als gerecht. Die Chimes werden für »column thirteen« reaktiviert und es entsteht ein überaus verspieltes und wunderschön leichtfüßiges Stück, das an ihr zauberhaftes »krYlon« aus dem Album »Oversteps« (2010) erinnert. Dies war damit auch der letzte Ausflug in romantischere Gefilde. Richtig zur Sache geht es dann nochmal bei »shimripl casual«. Hier wird man Ohrenzeuge beim langsamen und qualvollen Sterbeprozess des Betriebssystems einer künstlichen Intelligenz. Reste von artifiziellen Sprachfetzen, wiederholende Aufbäumversuche und fehlschlagende Neustarts reihen sich langsam aneinander, können aber vor dem sicheren Ende nicht mehr retten. Die Energie ist nahezu verbraucht. Dieses Martyrium findet in einer riesigen leeren und dunklen Halle statt. Doch zuletzt erwacht diese gequälte Kreatur überraschend und schafft es, das ultimative Ende einzuleiten. Und mit dem ungewöhnlich unmissverständlichen Titel »all end« beschließen Autechre diese Tour de Force dann in einem fast einstündigen intensiven Klangbad, das wie der Anblick des Inneren einer gleißend flimmernden Sonne anmutet. Das gewaltige Drone-Monstrum ist durchzogen von nuanciert eingesetzten Texturierungen und zeigt dabei in seiner Ästhetik Parallelen zu Stücken aus Alva Notos »Xerrox«-Reihe auf. So muss es sich wohl anhören, wenn in Sternen aus schier unendlicher Energie Wasserstoff zu Helium fusioniert wird.
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Im Verlauf der achtstündigen Reise über insgesamt 36 Tracks zeichnen sich immer wieder Reminiszenzen zu anderen Klangkünstlern und Musikern ab. Ob dies Zufall oder Intention ist, lässt sich jedoch auch hier nicht nachvollziehen. Das Klackern, gepaart mit Drones im mittleren Frequenzbereich von »peal MA« (NTS Session 2), klingt wie eine Mischung aus den Arbeiten »Vespers« (1969) und »Wire IV« (1979) des US-amerikanischen Klangkünstlers Alvin Lucier. Die letzten Minuten von »glos ceramic« (NTS Session 3) erinnern an die imposanten Sounds Harry Bertoias metallischer Klangkonstruktionen. Der Track »g 1 e 1« (NTS Session 3) könnte durchaus auch aus dem Studio der geschätzten Labelkollegen Boards Of Canada stammen. Man vergleiche hier etwa den Mini-Track »Kaini Industries« auf Boards Of Canadas »Music Has The Right To Children« (1998). Interessanterweise entwickelt sich beim Marathonhören der aktuellen Autechre-Releases eine gewisse Art von Leichtigkeit, die man beim ersten Vorkosten nicht vermuten würde. Die stetige Komplexität, die auf Autechres Eigenständigkeit zurückzuführen ist, entwickelt relativ schnell ihre eigene Logik und über kurz oder lang eine gewisse Vertrautheit. Sobald die Gehörverdauung verstanden hat, wie die komplexen klanglichen Enzyme zu spalten sind, verdaut es sich ganz leicht und es schmeckt noch dazu hervorragend.
Die Entwicklungsgeschichte von Autechres Werdegang ist höchst spannend und die Sturheit um das Festhalten an ihren eigenen Visionen und Ausdrucksformen vorbildlich. Ernsthafte negative Kritikpunkte zu finden ist schwierig, denn leicht machen es sich die beiden ambitionierten Herren trotz oder gerade wegen des stetigen Sponsorings des einflussreichen Labels Warp sicher nicht. Auch wenn Booth und Brown scheinbar einen Weg gefunden haben, durch geschickte Programmierung und Automatismen mittels Entwicklungstools wie Max/MSP schnell zu äußerst fruchtbaren Ergebnissen zu kommen, kann man ihnen dies sicher nicht vorhalten. Für gute Ergebnisse lediglich ein paar Knöpfe drücken zu müssen, ein Vorurteil, das elektronischen Musikern lange anhaftete, haben die beiden wohl durch jahrelange Tüftelei an komplexen Steuerungsalgorithmen tatsächlich geschafft. Da das Ergebnis aber derart eigenständig ist und unverkennbar deren Regie-Stempel trägt, kann man diese Arbeitsweise durchaus goutieren. Für das entsprechende Grafik-Design zeichnet wieder einmal die – man könnte sagen – Hausgrafikagentur von Warp Records, The Designers Republic, verantwortlich, die es sich nicht nehmen lässt, auch diesmal für Autechre eine beeindruckend reduzierte Visualisierung umzusetzen.
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Die NTS Sessions 1–4 sind zusammengefasst eine lange, partiell durchaus fordernde aber äußerst lohnende Entdeckungsreise, die uns aus einer verbrauchten Romantik hinein in eine Welt frischer und ursprünglich erfahrbarer Sinnlichkeit trägt, welche von Emotionen aller Couleur, Kraft und Überraschungen nur so strotzt. Hier werden unfassbar virtuose, dichte und detailreiche Bilder gezeichnet, kein Stein bleibt auf dem anderen, kein Muster erfährt je eine exakte Wiederholung. Das zunehmende Spiel mit der Ästhetik von künstlich gesprochener Sprache ist in dieser Form und Qualität neuartig und äußerst spannend. Dem überaus beeindruckenden Œuvre von Booth und Brown wird damit ein weiterer Meilenstein hinzugefügt. Es macht gespannt, welche Welten uns Autechre mit ihrer unvergleichlichen Art in Zukunft noch zeigen werden. Respekt.