Während sich »spex« in der März-Ausgabe im Leitartikel fragte: »Hat Pop ein Frauenproblem?«, stellt das Donaufestival gleich sechs der aktuell ausgeschlafensten Exponentinnen aufs Podest.
Gazelle Twin: Maskiertes Biest
Beängstigend wie eine Horrorszene wirken für manche Besucher Musik und Performance von Gazelle Twin aka Elizabeth Bernholz (née Walling). Anderen wiederum lindert die klaustrophobische Grund- stimmung den Schmerz. Zumindest aber versteht sie Neugierde zu wecken.
Noch vor einem Jahr quälte Elizabeth Bernholz Bühnenangst. In den vergangenen sechs Monaten, in denen sie rege in Europa und Ûbersee tourte, legte sie diese größtenteils ab. Lampenfieber habe sie zwar immer noch, jedoch könne sich dieses als durchaus produktiv erweisen, so Bernholz: »Das lässt den Adrenalinspiegel in die Höhe schnellen. Was von Vorteil ist bei den zermürbenden Zeitplänen einer langen Tournee. Meine Show ist sehr körperbetont, und da tut ein kleiner Kick ganz gut – solange er nicht dazu führt, dass man sich übergeben will.« Kürzlich spielte Gazelle Twin in Glasgow und in Manchester; Städte, die sie mag, weil sie Charakter zeigen und die Menschen dort zuvor- kommend und optimistisch sind. London könne eine Menge vom vibe dieser beiden Städten lernen.
»Unflesh«
Ihre erste ›vollkostümierte‹ Show hatte Gazelle Twin 2010. Gekleidet in einen blauen Hoodie, ein Andenken an ihre Schulzeit, über den Kopf einen Strumpf gezogen, der ihr Gesicht unkenntlich macht. Bernholz versprach sich durch die Ver- kleidung mehr Freiheit bei ihren Auftritten. So könne sie Themen behandeln, die sie als »sie selbst« auf der Bühne nicht wagen würde. Auf »Unflesh«, ihrem zweiten, im Vorjahr für Furore sorgenden Album, ver- feinerte Bernholz dieses Konzept. Haupt- thema des Albums ist der Körper, sind »meine eigenen Erfahrungen, die Pubertät und all die Impressionen, die diese bei mir verursachte«. Damit wolle sie gegen die Art, wie sich Frauen auf der Bühne heute zu (re-) präsentieren haben, rebellieren. Und sie wollte sich von Moden, von der Alltagswelt und generell von der Jetztzeit distanzieren. »I’ll beat them all at their own game« (»Belly Of The Beast«).
Bernholz komponierte und spielte alle Songs selber ein und produzierte das Album. Zwei Jahre benötigte sie bis zu dessen Fertigstellung. »Es hätte schneller gehen können, aber wie die meisten Musiker heutzutage, musste auch ich andere Jobs machen, um mein Auslangen zu finden.« Mit Benge wurde dann im Studio in London gemixt. »Er war mir dabei behilflich, einige Teile auf analogen Drum Machines und Synths neu aufzunehmen.« In UK und Europa wurde das Album auf ihrem eigenen Label Anti-Ghost Moon Ray veröffentlicht.
Beim Donaufestival wird Gazelle Twin ausschließlich Songs von »Unflesh« aufführen und natürlich ihr blaues Outfit samt Strumpfmaske tragen. Denn wenn sie ein Konzeptalbum macht, »lebe ich«, so die Musikerin, »ganz in dieser Welt und präsentiere nur Stücke dieses einen Albums, oder Songs, die mit diesem in Verbindung stehen. Für mich ergibt es keinen Sinn, Songs von älteren Alben aufzuführen, das würde nur Verwirrung stiften. Ich weiß, dass ich damit zwar einige Leute enttäusche, aber so will ich es eben machen. Da agiere ich nicht wie die meisten Bands.« Was bei Gazelle Twin allerdings zu einer stimmigen Performance beiträgt. (Fr., 24. 4., 0.30 Uhr, Halle 2)
Da ihre düsteren Songs nicht nur Horror erzeugen, sondern auch kathartische Wirkung haben und auch sogar Schmerzen lindern können, muss schlussendlich Death Grips ins Spiel gebracht werden. »Es freut mich, dass meine Musik bei dir Schmerzlinderung bewirkt. Extreme Musik hat mitunter diesen Effekt. Auch mir geht das so. Und ja, ich kenne Death Grips, ›Guillotine‹ war einer meiner Lieblingssongs der letzten Jahre.«
»50 Shades Of Grey« oder Clones?
Ob sie denn »Fifty Shades Of Grey« gelesen oder den Film gesehen habe? »Habe ich nicht, und habe es auch nicht vor. Ich arbeite mich noch immer durch das Gesamtwerk von J. G. Ballard. Wenn ich das geschafft habe, nehme ich mir H. P. Lovecraft vor.« Autotune verwendete sie noch nicht, aber in einem anderen Kontext, z. B. bei alternativer elektronischer Musik, gefalle ihr der Klang durchaus. Ob Clones denn die MusikerInnen der Zukunft wären? »Das hängt davon ab, welche Art von Clones du da meinst. Es gibt bereits eine Menge musikalischer Klone, die nicht in einem Labor gezüchtet wurden.«
Vergangenes Jahr traf Bernholz übrigens eine andere düstere Gespielin namens Paula Temple, die hier beim Donaufestival ebenfalls eine gewichtige Rolle spielen wird: »Sie ist eine liebenswerte Person und produziert großartigen Dark Techno.« Fürwahr.
Paula Temple: Was das Zeug hält
Die Techno-Veteranin Paula Temple aka Jaguar Woman fährt mit einem rauen Riot-Mix aus Industrial und Techno auf. Temple ist Hardware-Pionierin (Live 9 + Push) und gründete das britische Label Noise Manifesto. Kürzlich hob sie bei einer Konzertankündigung hervor, dass sie bei ihrem Live- Auftritt im Recyclart Art Center im Vorjahr die ausgelassenste Atmosphäre vorfand, die sie jemals erlebt hat. Kein Wunder, bei ihren energetischen Beats fliegen musikalisch sozusagen die Fetzen. »Colonized« oder »Cloned« zählen zu den ultimativen Tracks des Jahres 2013 (und sind auch in den damaligen skug-Jukebox-Favourites vertreten). Ihre aktuellen Stücke hören treffend auf Titel wie »Deathvox« oder »Gegen«. Freilich, »eine Gleichstellung werde ich wohl nicht mal in der Electronic Music erleben. Aber ich schätze mich glücklich, integre FreundInnen zu haben. Meinen Support werde ich lokal sowie in meinem ganzen Einflussbereich geltend machen«, so Temple am International Women’s Day.
Bei der Noise-Manifesto-Präsentation u. a. mit dabei: Oni Ayhun (= Olof Dreijer von The Knife), die Berliner House-Freestylerin rRoxymore, das Allround-Talent Jam Rostron alias Aquarian Jugs und die queer-feministische Pornoregisseurin Marit Östberg. (Do., 30. 4., 23.30 Uhr, Halle 2)
Noise Manifesto / Paula Temple © Tania Gualeni
Helena Hauff: Pudel Club
Helena Hauff ist legendäre Acid-Techno-DJane des Hamburger Pudel Club. »Es geht bei Clubkultur darum, eine Nacht durchzudrehen und sich am nächsten Morgen scheiße zu fühlen«, sagte sie kürz- lich dem »Kaput-Magazin«. Soeben erschien ihr erstes Full-Length-Album. Äußerst hörenswerte, wenn auch klar datierte Tracks. In Bälde folgt aber ein brandneues Album. Hauff zeichnet eine Vor- liebe für chaotischen, rauen Noise aus und ist live immer für tolle Ûberraschungen gut. Expect the unexpected, rohes Electronic-Gepolter und ausgefallener Krempel ist aber gewiss. (Sa., 25. 4., 00.30 Uhr, Halle 2)
Helena Hauff © Fabian Hammerl
4.-6. Herndon, Grouper, Planningtorock
Bereits 2013 lieferte Holly Herndon, aus Tennessee stammende Komponistin und Soundkünstlerin mit Berliner Minimal-Techno-Roots, ein tolles Live-Set auf dem Donaufestival ab. Der vorab erschienene Track »Interference« (ihr Album »Platform« kommt im Mai) lässt abermals eine First-Class-Präsentation erwarten, was der aktuellen Ausgabe von »WIRE« eine Cover-Story wert ist. (Sa., 2. 5., 00.15 Uhr, Halle 2)
Die Ambient-Solokünstlerin Grouper aka Liz Harris veröffentlichte mit »Ruins« bereits ihr zehntes ätherisches Album, angereichert um toll vernebelte Tape-Loops. (Sa., 25. 4., 18.30 Uhr, Minoritenkirche)
Mit experimentellem Art-Rock und Affinität zu The Knife sowie unerbittlichen Ansagen wie »Patriarchy over & out« und »Misogyny Drop Dead« wartet Planningtorock auf. Von ihrem Song »Human Drama« fertigte Paula Temple einen tollen Remix an. (Fr., 1. 5., 18.00 Uhr, Minoritenkirche)
Grouper / Planningtorock
Der Rest vom Fest
Dank des hervorrangenden Line-ups mit avancierter Electronik und Clubkultur wird es Aficionados auch heuer wieder schwerfallen, eine Auswahl zu treffen. Ein Festivalpass scheint unabdingbar. Programmatische Liveband-Höhepunkte sind Godspeed You! Black Emperor, Autechre und Battles, eine New Yorker Formation, die Avant-, Math-Rock und Elektronik kurzschließt. Dem Battles-Remix-Album »Dross Glop« wird heilende Acid-Qualität nachgesagt. Keineswegs nachstehen dürften das britische Trio Carter Tutti Void, bei dem Postpunk auf Dancefloor und Krautrock trifft, sowie das texanische Ambient-Drone-Duo Stars Of The Lid, das von einem heimischen Streicher- und Bläserensemble verstärkt wird.
Autechre
Von den Produzenten stellt Ben Frost schaurig-perkussiven Minimal Ambient mit Visual-Artist Marcel Weber zur Schau. James Holden, bekannt für Techno mit Gamelan-Musik, kündigt sich mit Live-Band an. Arca zerschießt Industrial mittels traumatischer Elektronik, diesmal mit dem Filme- macher und Visualisten Jesse Kanda.
Klingt.org, der Dreh- und Angelpunkt der heimischen elektronischen Musikszene, wartet in einem Showcase mit Ona (Ilpo Väisänen/Billy Roisz), Oliver Stotz, Tony Buck/John Butcher/Burkhard Stangl, Susanna Gartmayer, eRikm & Martin Brandlmayr auf.
Susanna Gartmayer © Iztok Zupan