Sei es die »Everything is awesome«-Filmwelt des »Lego Movie« oder Zarah Leanders Wunder, sei es der Musikantenstadl oder das Berghain: Irgendwie ist das alles ganz schön doof. Zumindest geht dort etwas vor, das die Musiktheoretiker Detlef Diederichsen und Holger Schulze angemessen nonchalant als »Doofe Musik« bezeichnen. Dabei ist diese Musik nicht per se doof im Sinne signifikant geringer Intelligenz. Vielmehr macht sie doof, und zwar in der Bedeutung des niederländischen »doof«, das nichts anderes bedeutet als »taub«; taub für die beunruhigenden Nachrichten, unempfänglich für die Unbilden der Realität. Doofe Musik ist eine eskapistische, eine, die zum Träumen, Betäuben und Vergessen einlädt: ein Dreiklang, der zum Untertitel wurde für das von Diederichsen und Schulze kuratierte Festival, das ihr das Berliner Haus der Kulturen der Welt Mitte Mai widmete und ein Reihe abschloß, die ebendort im vergangenen Jahr mit Veranstaltungen zur unmenschlichen und zur bösen Musik begonnen wurde – Musiken, die man leicht noch anderen in die Schuhe schieben konnte. Nicht so die doofe, die eine Sehnsucht markiert, die der Musik durchaus eingeschrieben ist.
Fundamentale Druggyness
Doofe Musik ist eine Erfolgsgeschichte. Die Frage liegt nahe, ob es nicht vielleicht die Geschichte der Musik selbst ist, die sie erzählt, und ob nicht das wertende Adjektiv verdeckt, welches befreiende Potenzial gerade in dieser Art von Musik steckt: nämlich Musik als Sinn vor dem Sinn, zumindest vor der Sprache, eng gekoppelt an Welt-, Ich- und Anders-Werden in Tanz und Ritual, als Macht, die jeden Raum in ein Anderswo verwandelt, welches aber nicht das Eskapistische des Schlagers sein muss, der nur die rosarote Brille auf die Nase drückt, sondern vielmehr Utopien im Hier und Jetzt realisiert. In dieser Lesart könnte doofe Musik auch sein: das Lullaby, das mit der körperlichen Sensation des rhythmischen Wiegens in den Schlaf korrespondiert sowie das rituelle Hüpfen der Schamanin mit monotonen Schlägen oder der Hippietraum hypnotisch perlender Gitarrensaiten mit dem Flackern des Feuers. Doofe Musik wäre auch der Freiraum, den das MP3-File im Player im Gedränge der U-Bahn schafft, wäre die Trance im Gleichklang von Licht und Beat im Rave. Da muss niemand Deleuze/Guattari oder ähnliche Apologeten einer Theorie des Tracks auspacken, um zu erahnen: die fundamentale Druggyness jeder Musik ist sicher eine ihrer edelsten Vorzüge.
Darüber hinaus wird auch diesseits des Popdiskurses der Flirt von irgendwie »doofer« mit irgendwie »intellektueller« Musik immer inniger, etwa bei einer Figur wie dem Indie-Schlagerbarden Dagobert, der seine Auftritte, stets mit geschleckter Frisur und feiner Garderobe, im Fernsehgarten ebenso wie im hippen Club Ritter Butzke absolviert, der im »spex« die Scorpions anhimmelt – und dem man großartigerweise noch nicht einmal dort auch nur ein Quäntchen Ironie nachweisen konnte: Fan-Sein als unsichere Wette darauf, dass alles ein brillanter Witz ist. Oder bei den üblichen Guilty-Pleasure-Spielchen, dem peinlichen Lieblingssong, der ersten selbstgekauften Platte: doofe Musik als sympathisches Hinweghüpfen über Diskursbarrieren, die noch vor gar nicht langer Zeit Musiker dazu brachten, ernsthaft zu behaupten, kindliche Erweckungserlebnisse mit Kraftwerk gehabt zu haben.
Polka Trax
Mit Beobachtungen dieser Art im Hinterkopf arbeitete sich das Festival im Haus der Kulturen der Welt durch ein Panorama von Konzerten, Filmen, Symposien und DJ-Sets. Christiane Rösinger und Justus Köhncke kommentierten bitterböse aber letztendlich versöhnlich über Conchita Wursts Triumph die Live-Ûbertragung des Eurovision Song Contests, Köhncke beehrte auch, neben dem Adriano Celentano Gebäckorchester, dem indischen Schlagerdekonstruktivisten/Ein-Mann-Animal-Collective meets Burt Bacharach Lifafa und dem Berliner Schauspieler und Lebenskünstler Friedrich Liechtenstein eine hinreißende Gala des sentimentalen Lieds mit Alleinunterhalterversionen von Hildegard Knef bis DJ Ötzi. Beim Eröffnungskonzert interpretierten Protagonisten der elektronischen U- und E-Musik – Kreidlers Alex Paulich ist darunter, Guido Möbius, Zeitblom – den legendär penetranten DiDiDi-DI-Di-Signature-Sound der Telekom als Mini-Symphonien, beziehungsweise zauberten, wie der mitwirkende Produzent und DJ Patric Catani formulierte, »aus dem fiesen pink/grau-farbenenen Quadrat des Todessterns eine grüne Froschoase im Frühling«.
Am Anfang der Festivalplanung stand die Polka. Diederichsens Idee, »Genres näher zu betrachten, die weltweit extrem beliebt und erfolgreich und gleichermaßen verpönt sind«, führte zu der Annahme, dass selbst in den gröbsten Trash-Genres ein paar Prozent tolle Musik zu finden sind. »Bei Polka machen viele Leute grundsätzlich die Tür zu, das sei einfach Scheißmusik, bei anderen Genres ebenfalls. Und gerade bei Polka sehe ich das anders.« Neben das Vorhaben einer vorurteilsfreien Bestandsaufnahme – Polka ist weltweit beliebt und wird, mit lokalen Musikdialekten vermengt, auch in Asien und im Südpazifik gespielt – trat bald die Frage, woher diese Verpöntheit eigentlich rührt und ob sie eine Berechtigung hat. Und schließlich, »was mit den Dingen ist, die nicht in Frage gestellt werden: klassische Musik und Jazz als Vertreter der Hochkultur. Diese Genres wollten wir einmal niedermachen und die anderen verteidigen, um Debatten in Gang zu bringen, Selbstverständlichkeiten und Klischees zu killen«, so Diederichsen.
Entsprechend wurden einige schöne Schläge in die Magengrube des distinguierten HKW-Publikums verteilt: Der Berliner Experimental-Club Ausland kuratierte einen Smooth-Jazz-Abend, JaKönigJas Ebba Durstewitz erklärte die Doofheit der Beethoven’schen »Eroica«. Minimal-Techno-Pionier Wolfgang Voigt präsentierte eine Installation mit dem Titel »Rückverzauberung 9 – Musik für Kulturinstitutionen«. Provokationen, die ihr Ziel erreichten: Beim abschließenden Symposium »Unsere doofe Musikkultur« kochte kurz die Stimmung hoch, als sich im Publikum ernsthaft eine Front zu bilden begann, die als doofe Musik nur, dafür aber ausnahmslos alle Pop-Musik gelten lassen wollte, Nachhilfe in Harmonielehre inbegriffen, während auf dem Podium der Veranstaltung »Die Furcht vor der Flucht« der Zürcher Audiokünstler Simon Grab aus dem dunklen Herzen der E-Musik berichtete, von Anfeindungen einem Komponisten gegenüber, der »Elemente aus der niederen Kultur« verwendet.
Gut, dass sich da immerhin einer als Fan einer solchen outete: Als zweiten Beitrag zum Festival spielte Wolfgang Voigt ein Polka-Set, das an seine »Polka Trax« aus den mittleren 1990er Jahren anschloss. Keineswegs ironisch das Ganze, sondern einfach tanzbar: das Akkordeon und Techno seien grundsätzlich bestens kompatibel, erläuterte Voigt später, der 2/4-Takt der ultimative Beat. Experimentell ließ er seinen Auftritt so von Minimal Techno über Kylie-Minogue-Samples übergehen in die reinste Form böhmischer Polka-Classics – und das Publikum, schön diskursbefreit vom Hyperdiskursüberbau des Festivals, ging schwitzend mit. Ähnlich näherte sich der algerische Produzent El Mahdy Jr. der Arabeske, türkischer Pop-Musik mit dem Image, sentimentaler, orientalistischer Kitsch für die Unterschicht zu sein, während am Abschlussabend Salvadora Andaluz ihren verquerten »Space Bolero« präsentierte – und sich dabei gar nicht als Eblis Álvarez outete, Mastermind der kolumbianischen Band Meridian Brothers, die für Diederichsen zum »interessantesten around überhaupt derzeit« gehört.
Jede Musik ist gleich
Das Schlusskonzert am Sonntag spielte, atmosphärisch und semi-beholfen wie immer, die Band Kofelgschroa aus Oberammergau: Helden des Invented-Tradition-Grooves, in deren Dekonstruktion bayerischer Folklore sowohl Platz für den lieben Herrgott gelassen wird wie auch für kritische Zustandsbeschreibungen des ätzenden, lähmenden Alltags in den Neubausiedlungen der Provinz: doof sich gebende Musik (der Titel dieses Textes dokumentiert die Antwort der Band auf die Frage nach ihrem Platz auf dem Festival) als Kommentar zu doofen Realitäten – und darum näher dran am oft verdrängten Ziehen in der Bauchhöhle als manches andere hier.
Ob die Ehrenrettung verschmähter Genres im Rahmen einer Veranstaltung gelang, die durchaus auf den distanzierten Blick der am Popdiskurs geschulten Teilnehmer setzte, mag allenfalls am Rande des Festivals verhandelt worden sein. Und zuletzt stellt sich sowieso die Frage, ob es eine nicht-doofe Musik überhaupt geben kann, die einem Eskapismus nicht Vorschub leistet. »Es ist weniger die Musik, die doof ist,« sagt Detlef Diederichsen. »Eigentlich ist jede Musik gleich, es kommt auf den Hörer an. Nicht eskapistisch zu sein, bedeutet nicht automatisch so etwas wie diskursive Musik, sondern vielmehr, dass diese Musik kommuniziert. Dass Menschen miteinander kommunizieren und der Hörer beim Hören eine Botschaft entschlüsseln kann. Wenn ich diese Botschaft erspüren will – das wäre vielleicht zumindest, immerhin, nicht-doofes Hören.«
Wobei das finale Beispiel, das das Doofe-Musikkultur-Symposium dem Publikum präsentierte, noch eine dritte Option lässt: Ich & Ich, das ist weder Musik zum Träumen, Betäuben und Vergessen noch eine, die kommuniziert, sondern, ähnlich wie Thomas-Gottschalk-Rock oder The Police, eine, die weder Distinktion raubt noch gewinnen lässt, die weder Eskapismus erlaubt noch intelligentes Mitfühlen, eine Musik, die nur dazu da ist, gehört zu werden, wenn dem Publikum Musik im Grunde völlig wumpe ist: Egale Musik. Mehr dazu vielleicht 2015?