dj andersno
DJ Anderson do Paraiso

»Paraiso Sombro«

Nyege Nyege Tapes

Während das Internet vor innovativen Mikroszenen aus allen Ecken und Enden der Welt überzuquellen scheint, ist Nyege Nyege Tapes aus Kampala derzeit eines der wenigen Labels, das zumindest einen Bruchteil davon glaubwürdig auf den Boden bekommt. So überrascht es auch nicht, DJ Anderson do Paraiso aus Belo Horizonte mit seinem minimalistischen Zeitlupenfunk am Label zu finden. Als Hauptstadt der brasilianischen Provinz Minas Gerais ist die Stadt seit jeher von starken Gegensätzen geprägt: die Vertreibung der indigenen Bevölkerung durch die portugiesischen Kolonialherren, der unverschämte Reichtum in Folge des Goldrauschs ab dem 18. Jahrhundert sowie die koloniale Ausbeutung auf den Plantagen des agrarisch geprägten Hinterlands, der Sertão. Nach der Hochzeit von Baile Funk in den 2000er-Jahren durchlebte das Genre in der letzten Dekade eine Veränderung: Der Partysound wurde zunehmend minimalistisch, die Atmosphäre düster. Das Cover von »Paraiso Sombro«, dem schattigen Paradies, zeigt den Protagonisten bei Nacht am Eingang eines Friedhofs. Funk BH, so der mutierte Name des Genres, ist gewissermaßen Friedhofsfunk für die Geisterstunde. In »The Bluest Eyes« beschreibt Toni Morrison den Funk als die Summe jener Eigenschaften, die von der kolonialen Erziehung auf Leben und Tod bekämpft werden: »das eine Spur zu laute Lachen, der ein wenig zu schräge Ausdruck, die unangebrachte Geste«. Wo immer der Funk ausbricht, so Morrison weiter, würde er mit allen Mitteln beiseite gewischt. Dann beschreibt sie die wunderbaren Eigenschaften des Funk, die allesamt auch auf DJ Anderson do Paraisos Musik zutreffen: »die schreckliche Funkiness der Leidenschaft, die Funkiness der Natur und die Funkiness menschlicher Emotionen (…) sickert ein, entfaltet sich und klammert sich fest«. Während die MCs und Sängerinnen dem Funk frönen, baut ihnen DJ Anderson do Paraiso ein düsteres Schloss aus Bass, geschmückt mit ein paar spärlichen Signature-Sounds: ein Chorälchen an der einen Ecke, eine Friedhofsglocke an der anderen und dazwischen jault eine Drill-Bassline auf, um kurz den Gangster raushängen zu lassen. Die tödlichste Bassline findet sich auf »Culpa do Baille do Serrão feat. MC Menor Thalis, MC Gordinho [[Gêmeos da Putaria]]«, obwohl das Stück eher unverdächtig mit einem melancholischen Sing-Sang beginnt. Außer eben jener Bassline, die bald schon die Vocals unterlegt, besteht das Stück aus nicht viel mehr als einer langgezogenen 808-Bassdrum und dem Scheppern von Kleingeld, das MC Menor Thalis und MC Gordinho in ihren Hosentaschen herumtragen. Auch »Me Apaixonei feat. MC Lisa, MC Paulin do G« wird vom Refrain getragen, dazu ein roher, fast unappetitlicher Synthesizer-Sound, ein paar Snares und ein drexcyianisches »Bang-Bang«, das als verbindendes Element alles zum Grooven bringt. Es ist beeindruckend, mit wie wenigen Zutaten DJ Anderson do Paraiso arbeitet. Er lässt der Funkiness der Vocals den nötigen Raum und trägt doch dick genug auf, um die Atmosphäre zu verdichten. Wer auf Raves in verlassenen Bergwerksschächten steht und sich vor Friedhofsfunk nicht fürchtet, wird das schattige Paradies von DJ Anderson do Paraiso lieben.

favicon

Unterstütze uns mit deiner Spende

skug ist ein unabhängiges Non-Profit-Magazin. Unterstütze unsere journalistische Arbeit mit einer Spende an den Empfänger: Verein zur Förderung von Subkultur, Verwendungszweck: skug Spende, IBAN: AT80 1100 0034 8351 7300, BIC: BKAUATWW, Bank Austria. Vielen Dank!

Nach oben scrollen