Susanne Kirchmayr © Chris Hessle
Susanne Kirchmayr © Chris Hessle

Die Rhythmusforscherin

Die letzten drei Jahrzehnte führten Susanne Kirchmayr alias Electric Indigo von Funk und Soul über Techno bis hin zu experimenteller elektronischer Musik. Ihr Debutalbum »5 1 1 5 9 3« zeichnet diese Entwicklung nach, ohne dabei in Retromanie zu verfallen.

Die musikalischen Anfänge von Susanne Kirchmayr liegen in der Musikszene Wiens der späten 1980er-Jahre. Eine wichtige Rolle spielte für die 1965 in Wien geborene Musikerin die Entdeckung von Funk. Kodwo Eshun bemerkt in »More Brilliant Than The Sun«, dass Funk seinen Zuhörer*innen eine »Biologik des Denkens« eröffnet und sie in die »Physiologie der Wahrnehmung« einführt.1 Auch wenn man aktuelle Stücke Kirchmayrs nicht unbedingt mit Funk in Verbindung bringen würde, so zeigt sich, dass ihre Arbeitsweise bis heute von dieser Perspektive beeinflusst ist. Wer sich jedoch, wie Kirchmayr, damals in Wien für Techno zu interessieren begann, bekam von dieser vermeintlichen Offenheit nicht viel zu spüren, eher im Gegenteil. Zwar gab es in der Stadt eine aktive Partyszene, die von Micropartys an mehr oder weniger obskuren Orten bis hin zu großen Veranstaltungen wie etwa dem Loop in der Arena oder den Raves im Gasometer reichte; allerdings war es schwierig, an die richtigen Platten zu kommen, da viele Vertriebswege von Playern beherrscht wurden, die Techno regelrecht boykottierten. Diese Situation war für Kirchmayr eine wichtige Motivation, nach Berlin zu gehen, wo sie zwischen 1993 und 1996 im Hardwax arbeitete, dem vielleicht wichtigsten Hub an der Schnittstelle Berlin-Detroit. Mit ihrer Rückkehr nach Wien brachte sie frischen Wind in eine Szene, die damals kurz vor dem Höhepunkt eines Hypes stand, es sich aber in ihrer Hauptstadtignoranz bereits ein wenig zu gemütlich eingerichtet hatte.

Der Hype kümmerte Susanne Kirchmayr damals schon genauso wenig wie aktuelle Retrowellen, weshalb ihre DJ-Sets ohne Nostalgie oder unnötigen Firlefanz auskommen. Dieses Prinzip hat sie sich auch für ihre konzertanten Stücke bewahrt, die sie seit 2012 parallel zu ihrer Arbeit als DJ öffentlich aufführt: »Am ehesten könnte man noch die ganzen kleinen Sounds als Firlefanz bezeichnen. Würde man die aber auch noch ausräumen, dann bliebe nichts mehr übrig. Es gibt jedenfalls viel Platz in meinen Stücken.« Sich diesen Raum zu nehmen, mitunter auch zu erkämpfen, führte 1998 zur Gründung des Female Pressure Netzwerks. Was als abstrakte Datenbank begann, ist heute, zwanzig Jahre später, ein Paradebeispiel einer feministischen Pressuregroup, der es gelungen ist, den Diskurs über die Gleichberechtigung der Geschlechter im Club- und Festivalgeschehen zu verankern. Ihr politisches Engagement schlägt auch in ihrem eigenen Schaffen nieder: »Früher habe ich leichter die Kontrolle abgegeben als heute, was auch ein wenig mit der Beherrschung meiner Geräte zu tun hat. Manchmal stoße ich aber an technische Grenzen und nehme Ungenauigkeiten in Kauf – oder ich provoziere sie sogar, das kommt auch vor.« Moment, sprechen wir nun über Politik oder Musik?

Susanne Kirchmayr © Chris Hessle
Studio-Setup von Susanne Kirchmayr © Chris Hessle

Granulare Wesen
»Bei meiner Musik ist die räumliche Erfahrung sehr wichtig,« meint Susanne Kirchmayr. »Zu den Klanglichkeiten und akustischen Landschaften, die ich erzeuge, muss man erst einen Zugang finden – das erschließt sich nicht, wenn man nur schnell einmal reinhört. Ich glaube, dass dies am besten im Format eines Albums funktioniert. Bei aller Düsterkeit hat das Album nämlich auch etwas Luftiges, Klares und viel Energie, auch wenn das nicht immer im Vordergrund steht.« Während die Veröffentlichung eines Albums und seine Adaption in Form eines Konzerts für viele Dance-Music-Produzent*innen in erster Linie einen spezifischen Karriereschritt darstellt, in dessen Rahmen Maxi-Singles in ein neues Format verpackt werden, liegt für Kirchmayr die Bedeutung woanders: »Im Vergleich zu einem DJ-Set nehme ich mir bei Konzerten musikalisch viel mehr Freiheiten. Durch die fertigen Videos agiere ich aber auch in engen Grenzen und spiele das Album mehr oder weniger durch. Es gibt aber einige Elemente, mit denen ich improvisiere – granulare Wesen, die während des Konzerts durch den Raum wandern, ein besonders großer, weicher Hall, der sich bewegt, sowie einige Drumsounds. Im Unterschied zum Album ist das Konzert auf ein Surround-System ausgelegt, was die räumliche Wahrnehmung verstärkt. Ansonsten arbeite ich vorwiegend mit den Pegeln und EQs.«

Einige der von Kirchmayr beschriebenen Techniken ähneln dem Repertoire, das ihr als DJ zur Verfügung steht. Ein Unterschied besteht jedoch in der vergleichsweise höheren Auflösung, die dem Publikum das Erschließen ungewöhnlicher Kategorien erlaubt (etwa eine Unterscheidung in »spröde und »weiche« Sounds) und damit eine »Stofflichkeit« der Musik ermöglicht: »In anderen Prozessen würde man vielleicht von ›sintern‹ sprechen«, dem Einschmelzen und Verfestigen von pulverförmigen bis körnigen Stoffen. Entscheidend ist dabei die Korngröße: »›Perpetuate‹ wäre so ein Beispiel. In diesem Stück besteht die gesamte Rhythmussektion nur aus einer Spur, die moduliert wird. Je nachdem wie stark ein LFO auf die Graingröße wirkt, verändert sich der Klang der perkussiven Elemente. Aus dieser Veränderung entstehen rhythmische Artefakte, die manchmal zum Groove passen, bei minimal geänderten Werten aber auch schnell daneben liegen können.« Wie tief Kirchmayrs molekularer Rhythmus im Funk verwurzelt ist, zeigt sich anhand eines Zitats von George Clinton, der die Arbeitsweise von Parliament folgendermaßen beschreibt: »Wir haben alles übereinandergestapelt und Dinge gegen andere Dinge prallen lassen.«2 Ebenso wie bei Kirchmayr scheint hier Groove das Resultat einer Kernschmelze zu sein. Dabei gilt es, die Funk-Explosion kontrolliert ablaufen zu lassen. »In einer frühen Version des Stückes habe ich lineare Modulationskurven gezeichnet – was dazu geführt hat, dass die Elemente oft nicht mehr genau zusammenpassten. Ich fand das interessant, bin mir aber bewusst, dass dies verstörend wirken kann. Bei der Albumversion habe ich mich auf jene Werte beschränkt, die gut zum Groove passen. Das ist eine Frage von Finetuning, aber auch eine künstlerische Entscheidung.«

Susanne Kirchmayr © Chris Hessle
Studio-Setup von Susanne Kirchmayr © Chris Hessle

Mikrorhythmik
Aus der Unschärfe in der Bedienung granularer Maschinen arbeitet Susanne Kirchmayr eine Spannungsdramaturgie heraus: »Oft entstehen Stücke aus bestimmten Sounds, in denen ich eine Rhythmik entdecke. Die Herausforderung besteht dann darin, diesen Rhythmus mit einem Beatgerüst zu verbinden.« Im Fall von »5 1 1 5 9 3« betont Kirchmayr die Bedeutung von der Zusammenarbeit mit Robert Henke von Monolake, auf dessen Label Imbalance Computer Music das Album im März dieses Jahres erschienen ist: »Tendenziell fehlt bei meinen Tracks manchmal etwas Gerades, an dem man sich anhalten kann. Für das Album ist das eine oder andere Element dazugekommen, durchaus auf Anregung des Labels. Bei den Feedbackschleifen zu ›Perpetuate‹ meinte Robert, dass es für ihn verwirrend sei, andauernd aus dem Stück rausgerissen zu werden. Da kam dann dieser Snare-Fell-artige Sound dazu, der ein bisschen weicher und runder ist und sich durch das Stück zieht – als Leitfaden, an dem man sich festhalten kann. Ich finde es manchmal eine gute Idee, so etwas dazu zu machen, es fällt mir aber selbst nicht unbedingt gleich auf. Es ist halt so, dass ich manches ein bisschen anders höre.« Die Musik von Kirchmayr bricht auch oft aus bekannten Rhythmusschemen aus: »Viele meiner Stücke sind ›off-the-grid‹ und daher ist es nicht so einfach, diese aufzulegen. Allerdings mache ich das nicht zwanghaft, sondern das entsteht durch meine Herangehensweise, Sounds zu finden. Sagen wir einmal so: Meine Sachen sind nicht immer einfach zu bändigen.«

Entstanden ist »5 1 1 5 9 3« in einem Prozess, dessen Anfänge in das Jahr 2012 zurückreichen: »Das Ausgangsmaterial basiert auf Werken, die ich ursprünglich konzertant aufgeführt habe. Ein Beispiel dafür ist ›Chiffres‹. Dabei habe ich mit 21 Aufnahmen gearbeitet, auf denen Menschen in ihrer Muttersprache von Null bis Zwanzig zählen.« Die dabei immer wiederkehrende Zahlenreihe »0-1-2« ist ebenso symptomatisch für Kirchmayrs Auseinandersetzung mit Kommunikation an den Rändern von Sprache wie auch die daraus resultierenden Unschärfen – etwa das seltsame Verhältnis zwischen der Anzahl der gesprochenen Zahlen (20) und jener der Sprecher*innen (21), das die Mikrorhythmik von Differenz und Wiederholung auf konzeptueller Ebene fortführt. »Ein anderes Stück, ›Morpheme‹, basiert auf dem Mitschnitt eines Vortrags von Sadie Plant: ›To let noise into the system is a kind of fine art, both in cybernetic terms and in terms of making music, too.‹ Ursprünglich war das Stück 35 Minuten lang, für eine Version mit Videos von Thomas Wagensommerer habe ich noch zusätzliche Teile produziert, um es auf 45 Minuten auszudehnen. Für das Album ist daraus das Stück ›Perpetuate‹ entstanden. Es gibt auch noch zwei weitere Werke, die ins Album eingeflossen ist. Aus ›109,47 Degrees‹ sind die beiden Ambient-Stücke »The Landing‹ und ›Second Organ‹ entstanden, während ›Darcy In Paradise‹ und ›4,31 Hz‹ Derivate von ›Barry Duffman‹ sind, einem Stück, das erstmals 2015 bei Wien Modern aufgeführt wurde.«

Susanne Kirchmayr © Chris Hessle

Feinschliff
Das von Kirchmayr beschriebene Soundrecycling offenbart eine künstlerische Nachhaltigkeit, die der vorherrschenden Suche nach immer »neuen« Sounds (meist durch die Einbindung neuer Consumer Technologies) entgegensteht. Einen wichtigen Stellenwert nimmt auch die Zusammenarbeit mit anderen Künstler*innen ein, deren Einfluss sich oft auch in späteren Arbeiten noch zeigt. Es ist daher nur schlüssig, dass »5 1 1 5 9 3« mit Imbalance Computer Music auf einem reinen Artist-Label erschienen ist. Die Entstehungsgeschichte zeigt nicht nur die Offenheit Kirchmayrs für Kollaborationen, sondern auch den langen Weg, den heute viele Werke bis zu ihrer Veröffentlichung zurücklegen. »Ich hatte einen Liveact gespielt und Robert Henke meinte in seiner Euphorie: ›Nimm es genau so auf und wir bringen es als Album raus‹. Davon war später natürlich keine Rede mehr. Ich hatte ihn beim Wort genommen und ihm die Rohfassung geschickt. Daran hat ihm einiges nicht gepasst und es hat noch viel Feinschliff gebraucht. Am Ende haben wir jedoch eine Form und einen Ablauf gefunden und tatsächlich basiert das Album weitgehend auf diesem Konzert. Ich bekam auch viel Input in Bezug auf die Anordnung der Stücke und das Timing zwischen den Tracks. Im Sommer 2017 haben wir uns dann für den Mixdown getroffen und dabei war es sehr hilfreich, sich die Pegel im Detail noch einmal gemeinsam anzusehen. Es war also ein langer Annäherungsprozess.« Nach dieser intensiven Auseinandersetzung benötigte Kirchmayr erst einmal Abstand zum Material. »Als ich im darauffolgenden Winter die Videos zu den Stücken geschnitten habe und dabei das Album ständig lief, habe ich mich erst so richtig damit angefreundet. Manche Dinge brauchen einfach Zeit und mir ist auch klar, dass meine Musik nicht besonders gefällig ist. Wobei ich denke, dass man sie auch nicht einfach als ›Dreck‹ abtun kann – dafür klingen die Sachen einfach zu gut,« meint Kirchmayr und lacht.

Und wie geht es ihr mit den Auftritten? »Da es ein filigraner Stoff ist, bin ich bei meinen Live-Performances immer sehr auf die Technik vor Ort angewiesen. Beim L.E.V. -Festival in Gijón, wo ich ›5 1 1 5 9 3‹ erstmals aufgeführt habe, hatte ich echt Glück: Es gab eine gute Anlage, einen starken Projektor und vor allem ein sehr offenes Publikum. Zwar war die Bühne sehr groß, aber trotz des Abstands habe ich viel vom Publikum mitbekommen. Selbst bei Ambient-Stücken wurde gejubelt, ›2nd Organ‹ war dort ein Hit. Vor dem Konzert war ich sehr nervös, da ich noch nie alleine ein A/V-Set gespielt hatte – doch glücklicherweise hat alles gut funktioniert. Die Performance macht viel Spaß und ich würde das Konzert gerne noch öfter aufführen, auch weil ich für mein Setup einiges in Hard- und Software investieren musste. Leider macht es wenig Sinn, ›5 1 1 5 9 3‹ auf mittelmäßigen Anlagen und einem schwachen Projektor aufzuführen, dafür braucht es einfach fette Technik.« Bedeutet das, dass dies in Wiener Clubs schwierig wäre? »Ja, genau,« lacht Kirchmayr und gießt frischen Tee auf.

1Kodwo Eshun. »Heller als die Sonne. Abenteuer in der Sonice Fiction.« Übersetzt von Dietmar Dath. Berlin: ID Verlag, 1998 (S. 62).
ebd. (S. 177).

Links:
http://indigo-inc.at
https://vimeo.com/electricindigo
http://imbalance.de/releases/icm-09.html

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