© The Modern Institute
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Die Musik der Bergarbeiter-Kids

In seinem Film »Everybody in the place« bringt der britische Künstler und Filmemacher Jeremy Deller migrantischen Jugendlichen die Zusammenhänge zwischen Bergarbeiterstreiks und der Musik ihrer Kinder näher.

In dem Film mit dem doppeldeutigen Titel »Everybody in the place« (2018) versuchte Jeremy Deller in einer Schule jungen Leuten, die wie für ein klassisches Konzert gestylt dasitzen, Teile der Geschichte Großbritanniens anhand von House und anderen Musikrichtungen darzustellen. »This is what makes the world turn around!«, tönt er beschwingt. Es geht hauptsächlich um gesellschaftliche Zusammenhänge von Musiktrends, Bergarbeiterstreiks und Industrie, so wie Deller sie erforscht hat und sieht. Die edlen Anzug- und Kopftuch-Kids sind ganz schön überrascht, lassen sich aber nach anfänglich höflicher Zurückhaltung darauf ein. Palace Club, Blackpool, Charlie Club, Michigan. In den Clubs benahmen sich die Besucher*innen wie die frühen Christen, »working yourself up into a frenzy«, erklärt Deller. Frühe Christen? Clubs? Arbeiterbewegung? Deller bringt auch aus den USA Beispiele: »Die Industriestadt Detroit war zum Beispiel eine Probebühne für Bands.« Schon die Eltern dieser Kids wanderten erst nach Margaret Thatcher und den protestierenden Bergarbeitern ein. Für Migrant*innen-Familien ist dieser Teil der Geschichte Englands völlig fremd und unbekannt. Jeremy Deller, der extrem späte Vertreter der frühen Christen, widmete diesen Film seinem Vater Ken Deller (1935–2018), der diese Varianten von Musik nicht leiden konnte.

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Eigene Soundsysteme

Jeremy Deller erklärt, wie sich damals Jugendliche selber die »means of music production« aneigneten. Er hat viele Geräte in die Schulklasse mitgebracht und lässt die Kids selber mischen, was sie hocherfreut verfolgen! Sogar eine Diskokugel lässt ihre Lichtpunkte über die Schüler*innen wandern, was den Klassenraum total verändert. Black People durften damals nicht in die Clubs, berichtet Deller, und spielten daher zuhause oder in Community Clubs ihre Musik. Man musste sein eigenes Soundsystem mitbringen. Eigene Produktionsmittel zu besitzen, war entscheidend! Nach den riesigen Miners Strikes in den 1980er-Jahren gab es in den Folgejahrzehnten große unpolitische Versammlungen, »which took the authorities by surprise«. Diese Versammlungen waren auf Musik ausgerichtet und es schienen oft genau die Kids der Bergarbeiter zu sein, die dringend zu House Music unruhige Energie rauslassen mussten. Auch die Orte und Plätze standen in Verbindung – es wurden oft leere Fabrikhallen genutzt und betanzt. In denselben Locations, in denen der Lärm der Maschinen geherrscht hatte, wo gerade noch gearbeitet wurde, tanzten nun die Kids der Generation nach den Bergarbeitern zu neuem stampfendem Lärm.

Heimlich in der Pampa

»Britain industrialized very quickly and lost the connection to the countryside«, erklärt Deller den migrantischen Schüler*innen, die selber noch nie am Land waren und heftig zusammenzucken, wenn Wickel zwischen der Polizei und den Musikbegeisterten gezeigt werden. Schlagstöcke wurden ungeniert verwendet. Eine Reihe Bobbies laufen quer durch eine Wiese, was sehr skurril aussieht. Nachdem viele der Musikevents aus unbekannten Gründen verboten und von den Behörden ausgiebigst verfolgt wurden, fanden sie eben heimlich statt. Oft irgendwo in der Pampa, auf Wiesen und Feldern. Techno war eine Musik »for travelers«, behauptet Jeremy Deller. In den 1990er Jahren kamen dann die Rave Clubs auf. »Popular Music bringt die Geschichte vorwärts.« Mit diesen Worten leitete Deller seinen Filmabend am 14. April 2023 im Wiener Gartenbaukino ein. Seine Recherchen mit den tollen Filmausschnitten müssen Jahre gedauert haben. Die Hopefulness der migrantischen Kids geht ihm sichtlich nahe. Der Filmtitel »Everybody in the place« – bedeutet der: In the place they »deserve«? Wohl nicht, sondern: In the right place for movement and music.

»Everybody in the place« und »Putin’s Happy« wurden im Rahmen von »An Evening with Jeremy Deller« am 14. April 2023 im Gartenbaukino gezeigt. Den dritten Film »Our Hobby is Depeche Mode« (2006) konnte die Autorin aus purer Erschöpfung leider nicht mehr ansehen. Rechtsradikale wie in »Putin’s Happy« können so anstrengend sein … Wollen sie auch. »Warning Graphic Content«, eine Ausstellung mit Plakaten von Jeremy Deller, ist noch bis 7. Mai 2023 im Franz Josefs Kai 3 – Raum für zeitgenössische Kunst zu sehen.

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