© The Modern Institute
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British radicalisation

Der britische Künstler Jeremy Deller versuchte herauszufinden, was die Brexit-Befürworter*innen so antreibt. Im Film »Putin’s Happy« kann man seine Mühen nachvollziehen.

Aggressive, fast viereckig erscheinende, kräftige Kastenmänner, gebaut wie Schränke, die sich ungeniert und ungebremst aufführen. Dahinter das fein ziselierte, neugotische britische Parlament. Wir befinden uns auf einer Brexit-Demo in London. Sein Film »Putin’s Happy« (2019) sei ein hässlicher Film, warnt Jeremy Deller im überaus vollen Wiener Gartenbaukino gleich zu Beginn. »Putin’s Happy« sei ein »horror film, but no fiction« und er selbst hätte sich wie in einem Bruegel-Gemälde gefühlt, einer Art Wimmelbild voller unerklärlicher Charaktere. Der britische Filmemacher befragte Brexit-Befürworter*innen, wie sie so extrem wurden, warum sie sich dermaßen radikalisierten. Diskutieren oder argumentieren wollte er hingegen nicht mit diesen Menschen. »Es ist nicht möglich, diesen Film zu genießen. Don’t enjoy it!«, so der flotte kleine Deller mit orangefarbenem Leiberl, der auf Socken im Kino herumrennt, fröhlich. Wer sich nach dem Film traumatisiert fühle, solle in der Pause mit ihm reden.

Seltsame Rückgriffe

Musiker spielen im Regen, umhüllt von der blauen Fahne der Europäischen Union mit den Sternen darauf. »Musicians ask for freedom of movement«, steht auf einem Transparent. Ein junger Mann spielt auf seiner Geige, Regentropfen wie Tränen im Gesicht. Schnitt. Ein älterer Kastenmann hält sein selbstgebasteltes Schild in die Höhe: »Rothschild runs our BBC«, steht einfach so antisemitisch darauf. Die Kamera folgt ihm. Auf Dellers Fragen hin steigert sich der Mann in ein unverständliches Crescendo, es geht schon wieder um Juden und Hitler. Hitziges Gemurmel … »Das sind die, die Hitler hereinholten«, warnt er und schaut eindringlich in die Kamera. Wer? »Sitz«, sagt ein anderer Mann vor dem britischen Parlament auf Deutsch zu seinem Pitbull Terrier. Seine Frau beginnt auf Deutsch Jeremy Deller zu bequatschen. Warum denkt sie, dass er Deutsch kann? Deller informiert sie, dass er kein Deutsch kann. 

Eine ältere Frau, die regelmäßig »Russia Today« schaut, führt den angeblichen »Verrat« Großbritanniens aus. »Betrayal is a strong word«, sagt ein kleinlauter Deller. Die Frau argumentiert gegen die polnischen Geschäfte. »Was arbeiten denn diese Polen, die Sie meinen?«, fragt Deller freundlich. Die grauhaarige Frau macht plötzlich die Augen zu und beginnt zu stottern. »In der Käsefabrik«, antwortet sie, »aber viele Polen sind auch obdachlos.« Persönlich kenne sie keinen einzigen Polen. »Was meine Eltern im Zweiten Weltkrieg durchmachen mussten!«, wirft sie plötzlich völlig zusammenhanglos in die Runde.

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Reizthema Missbrauch

Bei den britischen Rechtsradikalen scheint aber auch das Thema sexualisierte Gewalt gegen Kinder eine große Rolle zu spielen, ähnlich wie in Österreich. Ein Demonstrant hat auf seiner gelben Warnweste »Free Melanie Shaw« stehen. Wegen Brandstiftung sitzt Melanie Shaw derzeit im Gefängnis. Sie gab vorher an, im Beechwood Children’s Home Opfer von sexualisierter Gewalt geworden zu sein, ähnlich wie weitere achtzig Überlebende in diesem Heim. 2019 kam die »Independent Inquiry into Child Sexual Abuse« zu dem Schluss, dass es in den 1970er-, 1980er- und 1990er-Jahren in diesem Heim in Nottingham »widespread abuse« gegeben habe und die Polizei die Opfer im Stich gelassen hätte. Rechtsradikale Brexit-Befürworter*innen setzten sich für sie ein. 

Im Film breitet sich Nigel Farage auf einer Bühne großartig aus: »This is the bond of trust«, tönt er über die Brexit-Befürworter*innen und wird von einem Haufen junger und älterer Frauen angehimmelt, möglichen weiteren Opfern von »betrayal«, die ja inzwischen auch von Farage »verraten« und verlassen wurden. »Der junge Mann vom Anfang, der mit der Geige, ist der Enkelsohn einer Auschwitz-Überlebenden. Er heißt Simon Wallfisch, seine Oma Anita spielte im Auschwitz-Orchester Cello. Sie lebt noch!«, erklärt Jeremy Deller in der Pause und beißt seine Nägel. »Ein Problem ist, dass es in Großbritannien eine Fernseh-Comedy zum Thema Nationalsozialismus gab, mit verrückten Charakteren drin. Viele Leute hielten die Show für eine Dokumentation. Diese Show machte alle verrückt. Nigel Farage wirkt wie ein Charakter daraus.«

Der Film »Putin’s Happy« wurde im Rahmen von »An Evening with Jeremy Deller« am 14. April 2023 im Gartenbaukino gezeigt. Ein Bericht über Dellers Film »Everybody in the Place« (2018) folgt in Kürze. Bis 7. Mai 2023 ist im Franz Josefs Kai 3 – Raum für zeitgenössische Kunst außerdem die Ausstellung »Warning Graphic Content« mit Plakaten von Jeremy Deller zu sehen.

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