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Deaf Center

»Reverie«

Sonic Pieces

Vor zwanzig Jahren veröffentlichte das norwegische Duo Deaf Center ein Album namens »Pale Ravine«, das heute als Klassiker im stilistisch weiten Feld zwischen experimenteller Elektronik, Dark Ambient und Neo-Classical Music gilt. Das Artwork des Albums bildet eine Collage aus Gesteinsformationen und in Textilien eingewobenen Mustern ab, was insgesamt den optischen Eindruck einer durch grafische Elemente stark texturierten, zerklüfteten und teilweise im Nebel liegenden Gebirgslandschaft hinterlässt. Die Ästhetik des Covers entspricht perfekt dem musikalischen Ausdruck von Deaf Center: Die dunkel und mystisch anmutende, naturnahe aber ebenso artifizielle Musik des Duos changiert zwischen Nähe und Distanz bzw. Wärme und Kälte und zeichnet sich durch eine gewisse Schroffheit aus, wobei eine allgemeine Sanftheit im Ausdruck überwiegt. In der Rhetorik einer Reisebroschüre formuliert: Urlaub in Norwegen, illustriert anhand eines Blicks aus der am Fjord gelegenen warmen Stube hinaus auf die kalte See und die kahlen Berge. Die Urlauberin – von hinten im Halbprofil aufgenommen – steht, eine dampfende Tasse Tee in der Hand, neben dem Kaminfeuer am Panoramafenster, eingehüllt in eine warme Decke, draußen bricht die Nacht an. Sie ist allein und entspannt, wanderte nicht übers Nebelmeer, war aber gerade in der Sauna. Diese klischeehafte Inszenierung führt in der Bewertung der Musik von Deaf Center nicht zum Urteil »kitschig«, aber die romantisch grundierten Kompositionen/Improvisationen des Duos eignen sich sehr wohl zur inneren Einkehr, zur Kontemplation und – aus sicherer Distanz – zum sentimentalen Blick auf die Welt, wie sie ist oder zumindest zu sein scheint (vgl. »Reverie«, übersetzt »Träumerei«, auch zur Bezeichnung eines elegisch-träumerischen Klavierstücks in der Romantik). 

Romantik als kunsthistorische Gattung lebt von der Thematisierung der Gefühlswelt des Individuums gegenüber der Erfahrung der ihm äußeren Natur. Die Sehnsucht nach dem Aufgehoben-Sein in der Schöpfung ist ihr ebenso eingeschrieben wie die Furcht vor dem Unbekannten, der als unheimlich wahrgenommenen Welt. Die Erfahrung der »Trennung« oder zumindest die Annahme dieser historisch spezifischen Subjektkonfiguration (»die Verfassung des modernen Menschen in der Zivilisation«) lebt in den inszenierten Stimmungen von Werbefotografie und experimenteller elektronischer Musik fort. Gegenwärtig in solchen Bild- wie Tonkompositionen: die emotionale Gleichzeitigkeit von Behaglichkeit und Unbehagen. Hier kommt mitnichten ein universelles Prinzip zum Ausdruck. Ob und in welcher Form sich jenseits des »reichen Nordens«, im sogenannten »globalen Süden«, dieses Lebensgefühl finden lässt, ich weiß es nicht: Gibt es Dark Ambient, als Ausdruck »von Unsicherheit in gesicherten Verhältnissen«, beispielsweise in Indonesien, Angola oder Peru? In urbanen, industrialisierten Zentren vielleicht, denn die braucht es als Gegenstück zur (vermeintlich) unberührten Natur. All diese Projektionen können eine große Rolle in der Auseinandersetzung mit der Musik von Deaf Center spielen, wenn man sich über die Tatsache, dass Otto A. Totland Klavier spielt, während Erik K. Skodvin diverse (nicht-)elektronische Instrumente zur Klangerzeugung nutzt und so die Musik von Deaf Center entsteht, hinaus Gedanken machen will. 

»Reverie« dokumentiert zwei Live-Auftritte des Duos. In welchem Umfang diese nachbearbeitet sind, ist nicht genau zu sagen, aber vor dem Hintergrund der vorgenommenen Gedankenspiele nicht entscheidend, denn im Resultat entspricht die Musik romantischer Ästhetik im vorgestellten Sinne: Die linke Hand Totlands grundiert dunkel, während seine linke helle Töne auf die musikalische Leinwand bringt. Skodvin schabt, kratzt und streicht mal mehr mal weniger sanft mittels seiner diversen Instrumente drüber und so entsteht eine Klanglandschaft, die analog zu Bildern von William Turner, Caspar David Friedrich oder – um auch ein paar norwegischen Vertreter ins Spiel zu bringen – Johan Christian Dahl oder Hans Fredrik Gude wahrgenommen werden kann. Inwiefern einen diese Ästhetik anspricht, das ist jenseits von kunsthistorischen und musikalischen Einordnungen wahrscheinlich Geschmacksache, eine Frage der individuellen Gestimmtheit. Handwerklich betrachtet können die einen mit dem Pinsel umgehen, die anderen mit Musikinstrumenten. Das steht außer Frage. 

Home / Rezensionen

Text
Holger Adam

Veröffentlichung
27.05.2025

Schlagwörter

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