Wroclaw Styrian Orchestra<br />fotos: Curt Cuisine
Wroclaw Styrian Orchestra
fotos: Curt Cuisine

Blind Date in Wroclaw

Worüber schreiben, wenn man drei Tage mit großartigen Musikern verbracht hat? Wie vermitteln, dass improvisierte Musik am besten als Ereignis wahrgenommen werden kann? Ein Annäherungsversuch mit eingespieltem Loop.

Wo fangen wir an? Am besten, ihr kommt einfach mit und lasst euch auf diesen Text ein. Besuchen wir zunächst Franz Schmuck. Franz ist Sänger und Perkussionist. Später am Abend werden neben seinem Schlagzeug auf eine Styroporbox aufmontierte Stahlfedern stehen, aus denen er die wunderbarsten Klangvariationen hervorzaubert. Franz Schmuck spielt mit dem Formenreichtum anderer Musikkulturen, bricht diese auch gerne auf. Ja, kleben wir ruhig das Etikett »Weltmusik« drauf und zerreißen es gleich wieder. Zwischendurch singt Franz, insbesondere Kehlkopfgesang, er hat, wie er sagt, »als Kind schon ein Didgeridoo verschluckt«. Kindheit ist ein gutes Thema. Eine seiner ersten Konzerterfahrungen war 1972 im Kärntner Viktring, wo unter anderem Don Cherry, Naná Vasconcelos und Dollar Brand miteinander spielten. Und nebenbei auch Friedrich Gulda, der eigentlich »Das wohltemperierte Klavier« hätte spielen sollen, es aber vorzog, das bürgerliche Publikum von den Rängen zu vertreiben.
Prägt so eine Erfahrung? Als Jugendlicher mit freier Improvisationsmusik in Berührung zu kommen, als diese zudem noch sensationell neu war? Sicher. Wir sind beim Thema. Franz Schmuck ist einer der vierundzwanzig Musiker, die sich zum fünften Durchgang von »Alpenglow«, dieses Mal im polnischen Wroclaw, zusammengefunden haben – nach Gastspielen in Köln und London, auf denen in den Jahren dazwischen jeweils eine Einladung nach Graz folgte. Das Konzept klingt einfach: Man nehme eine Handvoll MusikerInnen mit mehr oder weniger starker Affinität zum Experimentellen und bringe sie in mehr oder weniger bestimmten Konstellationen mit Musikern aus anderen Ländern zusammen.

Keine Experimente?
Dazu gibt es keine Probe, kein einstudiertes Programm, nur einen Soundcheck. Ein Blind Date eben. Klingt das nach der Experimentalmusik, vor der euch eure Eltern immer gewarnt haben? Wir müssen uns noch tiefer in die Höhle des Experimentallöwen wagen. »In der Musik gibt es keine Experimente, denn beim Machen entsteht schon Musik«, sagt Josef Klammer, Gründungsmitglied des Grazer V:NM (Verein für Neue Musik), auf dessen Initiative hin »Alpenglow« entstanden ist. Der V:NM hat eine lange Geschichte, geht im Grunde zurück auf die Vernetzungsarbeit, die unter dem Titel »Klangnetze« unter Bildungsminister Scholten begonnen hat. »Damals sind Künstler mit verschiedensten Hintergründen zusammengekommen, Neutöner, frei Improvisierende, Jazzer – und man hat erkannt, dass sich doch mehr Leute als vermutet in diesem Bereich bewegen«, erzählt Gitarrist Sepp Gruendler, ebenfalls ein Altmeister im Bereich »Gitarre mit elektronischen Beiwerk«. (Ûber fünfundsechzig Künstler sind mittlerweile Mitglieder beim V:NM, ein beachtlicher Pool, der auch verdeutlicht, dass die Steiermark ein guter Nährboden für experimentelle Musik ist.)
»Alpenglow« steht im Zeichen der Vernetzung und Vermittlung -das erklärt auch die recht bunte Zusammensetzung. Zum Beispiel eben Sepp Gruendler und Josef Klammer, die sich seit mittlerweile dreißig Jahren in Trio- und Duobesetzung aneinander reiben – und die zu den ersten Musikern in Österreich zählten, die Improvisationsmusik mit moderner Elektronik verknüpften. »Damals hörten wir oft, dass Elektronik und Jazz einfach nicht zusammen passen«, erzählt Gruendler lachend. Unvorstellbar heute, oder?

Erst kommt das Zuhören, dann die Musik
Dann haben wir die beiden Pianistinnen Elisabeth Harnik und Katharina Klement. Eigentlich ein Frevel, beide in einem Atemzug nennen, obwohl beide sowohl zeitgenössische Komponistinnen wie Improvisationsmusikerinnen im weitesten Sinne sind. Katharina Klement findet die Bezeichnung »Pianistin« irreführend, da sie sich nicht als interpretierende Musikerin erlebt. Es geht ums Erschaffen, gerade auch beim Improvisieren im Kollektiv, das von den Musikern maximale Konzentration, maximale Offenheit, maximale Zurücknahme – und dennoch den ganzen Einsatz der musikalischen Persönlichkeit verlangt.
Ich greife vor und verrate, dass es eine großartige Erfahrung war, beide Künstlerinnen bei diesem intensivem Zuhören und Interagieren zu erleben. (Umso mehr als Elisabeth Harnik in einem Set gegen drei zu laut agierende Elektroakustiker antreten musste – und das mit grandios gesetzten, herrlich schroffen Akkordclustern austarierte.) Ein weiterer Pianist: Heimo Puschingg. Vielleicht einer der österreichischen Experten für Zwölftonmusik, den Rest der Musikgeschichte sowieso im kleinen Finger mitführend. Mit ihm am Piano ist jeder musikalische Input möglich, was an zwei Abenden mit ebenso nobler wie humorvoller Zurückhaltung durchschimmerte.
martin_zrost_43.jpgSpringen wir weiter, wo wir schon so schön dabei sind, musikalische Persönlichkeiten auf Stehsätze zu reduzieren. Dazu fällt mir Martin Zrost ein, Komponist und Multiinstrumentalist, bei »Alpenglow« aber als Saxophonist dabei. Zrost war etwa Contributor bei den grandios durchgeknallten Ohmnibus, beim Trio Exklusiv, beim Trio Lepschi, nicht zu reden von unzähligen anderen Projekten. Für ihn sind die V:NM-Blind-Dates »eine gute Art, es ernst werden zu lassen«. Witzig, dass das ausgerechnet jemand sagt, der sich auf und abseits der Bühne durch eine wohlgesonnene und hellhörige Ironie auszeichnet.
Oder die E-Gitarrenlegende Armin Pokorn (aka Midi-Armin), der ein wenig wie der steirische Halbbruder von Jimi Hendrix wirkt. Auf die Frage, wie viele CDs sein mitwirkendes Schaffen schon umfasst, zeigen seine Hände die vermutliche Länge der Liste. »Uncountable« steht auf seiner Website dazu. Bei den Konzerten deutet er den doppelten Hendrix mit eingesprungenem Santana durchaus an, aber die »Rocksau« verschwindet gleich wieder, denn der wahre Meister kann zuhören und sich zurücknehmen. Ohnehin hat sich die Attitüde Rock’n’Roll mit all ihren dark sides längst in Richtung Elektronik verabschiedet, Stichwort Elektroteufelchen Michael Pinter, der das Luziferbärtchen nicht ganz zufällig trägt. Mehr sei hier aber nicht verraten.

Herr, schenk mir dieses Publikum!
Warum diese Einzelvorstellungen? Vermittlung ist das Thema. Dass sich durch eine Konzertreihe wie »Alpenglow« Musiker miteinander vernetzen, dabei vom gegenseitigen Können und Wissen profitieren, sich danach auch zu fruitful projects zusammenfinden ist schön und gut – aber was hat das Publikum unmittelbar davon? Diese Frage stellte sich in Wroclaw nicht. Ausnahmsweise, muss man hinzufügen. Alle drei Konzertabende waren bestens besucht – von einem jungen, aufgeschlossenen Publikum, das man hierzulande eher bei einem Popkonzert erwarten würde. Ohne das einheimische Publikum diffamieren zu wollen, aber warum gibt es in Polen diese selbstverständliche Bereitschaft, sich auf unvorhersehbare, herausfordernde Hörerfahrungen einzulassen?
»Die Polen sind aufgrund ihrer Geschichte sehr aufgeschlossen, aber in Wroclaw noch mehr, weil die Stadt so eine bewegte Geschichte hinter sich hat«, erzählt Cezary Duchnowski, zeitgenössischer Komponist und einer der ersten in Polen, der sich mit Elektroakustik beschäftigt hat. »Alpenglow« ist neben einem Festival für »Polish Contemporary Music« und einem für »Musica Electronica Nova« in bester Gesellschaft. Mit dem Verweis auf ein kulturell ausgehungertes Publikum kommt man also nicht weit. Aber es hilft sicher, auch die außergewöhnliche Jazztradition in Polen zu erwähnen (Stichwort Krzysztof Komeda und alles danach).
In diesen Jazzkosmos passt Klarinettist Waclaw Zimpel, der als Musiker überlebt, weil er in unzähligen Ensembles spielt, manchmal bis zu sechsmal pro Woche. Waclaw kennt kaum Berührungsängste, von Mozart über Ethnojazz bis Stockhausen ist für ihn alles möglich. Live scheut er dementsprechend nicht vor klassischen Phrasierungen zurück, was natürlich ebenso seinen Platz im anything goes der Improvisationsmusik hat. Der Bassist Bartolomiej Kuzniak wiederum steht mehr auf power electric stuff. Er produziert CDs vor allem, um Geld zu verdienen – auch mit polnischen Popstars. Seine eigenen Werke bietet er kostenfrei im Internet an – und zwar in besserer Soundqualität als auf der von ihm als Medium verachteten CD. Wenn überhaupt, so fällt an den polnischen Musikern auf, dass sie den Traditionen, im Jazz und in der modernen Klassik, eine Spur näher stehen. Kuzniaks Versuch, gemeinsam mit den Grazern einen Morton Feldman hinzubiegen, ist sich am dritten Konzertabend dementsprechend nicht ganz ausgegangen.

Weiter mit dem fröhlichen Reigen
Haben wir schon Gernot Tutner erwähnt? Eigentlich aus der Clubszene stammend und am liebsten mit einem »Ableton Live«-Sequenzer bewaffnet? Oder den klassisch ausgebildeten Manfred Stern? Den man auf den ersten Blick für einen Blasmusikkapellmeister halten könnte, der sich aber auf der Bühne durch beispielgebende Musikalität auszeichnet? Oder den vielseitigen Henrik Sande und die Ausnahmeviolonistin Mia Zabelka?
Auch Denovaire fehlt noch, der seine Esraj, ein sitarähnliches Saiteninstrument, zu »Alpenglow« mitgenommen hat. Neben seiner Tätigkeit als Komponist produziert der Steirer auch ethnisch angehauchte Meditations-CDs, die sich im Vergleich zu seinen »ernsten« Werken geradezu unverschämt gut verkaufen. Denovaire bringt uns zurück zum Thema: Das gemeinsame Improvisieren, genauer, der kooperative Schaffensprozess, hat für ihn eine spirituelle Komponente. Es geht ums Auflösen des »Egokörpers«. Wofür natürlich viele Aspekte zusammenwirken müssen. »Wenn die Situation nicht passt, spiele ich vielleicht ein ganzes Konzert lang keinen Ton«, sagt er. Das klingt radikal, es stellt sich aber erneut die Frage: Was hat das Publikum davon? Das ja ohnehin darunter »leidet« (oder eben fernbleibt), weil es bei frei improvisierten Konzerten gar so »unfreudvoll« zugeht. Gemeint ist der unausgesprochene Zwang, stets etwas noch nie Gehörtes, sich Hörgewohnheiten Verweigerndes zu produzieren.
Wie war das an den drei Konzertabenden in Wroclaw? Zum Teil berauschend. Auf großartig hellhörige, fast flüsternde Passagen folgten stilistische Exkurse, es gab Noise-Exzesse, es gab ungeplante Allianzen, es gab Phasen höchster Intensität – und auch einen Moment kollektiven Scheiterns. In gewisser Weise also business as usual … Eine wiederkehrende Kritik an der freien Improvisationsmusik ist, dass es dabei letztlich »nur« um die musikalische Persönlichkeit, um die individuelle Ausdrucksweise gehe. Es sei stets derselbe »Schmäh«. Richtig. Wer kommt, um Melodien, Songs oder einen Stil zu hören, der wird nicht fündig.
Zu (er)hören sind stattdessen miteinander kommunizierende, musikalische Persönlichkeiten. Ein zu Musik gewordenes Miteinander. Oder eben auch nicht. Darin liegt das Unvorhersehbare, das Mühsame, das Risiko. Zwischen der Egoauflösung, von der Devonaire spricht, und dem rücksichtslosen »Rocksau-Ego« (immer diese Elektroniker …) ist alles möglich. Aber hört man tatsächlich die blutige, geschundene Seele des Musikers? Eher gilt, was Elisabeth Harnik meinte: »Letztendlich ist Musik eben doch nur Musik«. Ein Abend im Zeichen freier Improvisation ist nicht »Big Brother«. Wenn schon, dann bitte »Atonal Brother«.

Finaler Abend mit Phasenverschiebung
franz_schmuck_43.jpgJa aber, lohnt sich das wirklich? Es wird Zeit, Annette auf die Bühne zu bitten. Ich darf vorstellen, Annette Giesriegel, Stimmklangforscherin mit ganzheitlichem Hang zwischen Welten und Genres zu spazieren. Gemeinsam mit Franz Schmuck hat sie etwa eine überdrehte Ethnoschalmei eingespielt, gemeinsam mit Mia Zabelka erforscht sie die tonlosen Aspekte ihrer Stimme. Nur zum Beispiel. Annette gehört zu den Menschen, die stets eine positive Lebenskraft ausstrahlen (ohne da jetzt in eine esoterische Holzfällerpsychologie abgleiten zu wollen).
Wir befinden uns am letzten Abend von »Alpenglow«, alle Protagonisten der Ensembles schließen sich zum 24-köpfigen Big Wroclaw Styrian Orchester zusammen. Bei einem derart großen Ensemble braucht es natürlich dezente Spielregeln. Für zwei Stücke boten sich Annette und Devonaire als Dirigenten an, mit einer Zeichensprache, die sich bei anderen Improvisers Orchestras (etwa das VIO unter Michael Fischer) bereits bewährt hat. Trotzdem sitzt eine Zeichensprache nicht binnen einer einstündigen Probe, dazu braucht es mehr als informative Handzeichen. Das gelang etwa Annette durch eine dynamische Verknüpfung von Dirigieren und Koboldstanz, Devonaire löste das gravitätischer, aber nicht weniger meisterlich.
Das zu diesem Zeitpunkt hübsch warm gespielte Ensemble verschmolz unter der Einwirkung beider Dirigenten zu einem nahezu organisch-orgiastischen Ganzen (um auch das Lustvolle daran zu betonen). Das Orchester vervielfachte die musikalische Persönlichkeit des Dirigenten, verfremdete und veredelte sie zugleich, eine Symbiose in all ihrer Vieldeutigkeit. Das wurde am deutlichsten bei der Zugabe (ja, ein jubelndes Publikum!), als Annette mitten im Stück an Devonaire übergab. Im selben Moment änderten sich Klang, Gefüge und Dynamik, wie eine Art kollektive Phasenverschiebung. Ein großartiger, ungeplanter Moment, der einen grandiosen Abend krönte. Aber eben nur für ein Publikum das vor Ort und bereit war, hinzuhören.
Das scheint die am Ende doch ein wenig bittere Moral zu sein. Die Vermittlung neuer Improvisationsmusik? Braucht nicht nur aufgeschlossene Musiker, sondern auch ein aufgeschlossenes Publikum! Und das wiederum kriegen wir wie? Na ja, vielleicht tatsächlich indem man Typen wie mich mitschleift, die dann versuchen die Geschichte ganz von vorne zu erklären. Schaut mal, das hier sind die Musiker, das tun sie – und das kommt dabei raus. Nicht unbedingt neu geschriebene Musikgeschichte, aber die Geschichte eines Augenblicks, einer Begegnung. Und in aller Zweideutigkeit gilt: Mehr kann man nicht kriegen.

Das Alpenglow-Rückspiel findet vom 4.-7. April 2013 in verschiedenen Locations in der Grazer Innenstadt statt. Alle Infos auf vnm.mur.at

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