Ähnlich wie ihrem Mentor John Peel, den sie 1983 kennen lernte, geht es Marcelle Van Hoof darum, Geschichten zu erzählen, Referenzen herzustellen, Energieströme zu kanalisieren. Was spricht dagegen, nach einem Dubstep-Track eine Ramones-Nummer aufzulegen, wie geschehen am heurigen »Klangbad«-Festival in Scheer? Plastikman nach Woodie Guthrie? Seit dreißig Jahren sammelt Marcelle Platten, seit mehr als zwanzig Jahren ist sie Radio-DJ, wie Peel genießt sie das Privileg, ihre wöchentliche Sendung »Another Nice Mess« im Amsterdamer Radio DFM von zuhause aus zu gestalten, wo sie auf ihr gut 15.000 Platten umfassendes Archiv zurückgreift.
»Musik ist die Kunstform, die mir direkt ins Herz geht. 1977 wurde ich zur Waise. Gleichzeitig gab es Punk. Ich fühlte mich oft einsam und Musik war von Anfang an meine »beste Freundin«. Besonders als Frau war es schwierig, Anschluss oder Austausch zu finden. Das ist heutzutage teilweise noch immer so. Mir gefällt das »Jungs-Ding« beim DJing nicht besonders, es ist mir zu Technik-orientiert. Ich finde die meisten DJs deswegen so langweilig, weil sie sich nicht wirklich mit Musik beschäftigen, sondern sich auf bestimmte Genres festlegen. Das ist einerseits recht konservativ und hat andererseits mit der eigentlichen Tätigkeit eines DJs, wenn man sich die Geschichte des DJings ansieht, nicht wirklich etwas zu tun. Meine Motivation, aufzulegen, ist einfach: Ich möchte meine Begeisterung für die viele gute Musik, die es da draußen gibt, mit anderen teilen.«
Nach drei selbst herausgebrachten Mix-CDs ist aktuell ihre erste offizielle Veröffentlichung »Another Nice Mess Meets Her Soulmates At Faust Studio Deejay Laboratory« auf Klangbad erschienen. Wer jetzt an King Tubby und seine Rockers Uptown denkt, liegt genau richtig. Doppel-Vinyl only, versteht sich. Die verwendeten Tracks wurden ihr gratis zur Verfügung gestellt, gemischt wurde die Platte im Studio von Faust in Scheer, wo Klangbad-Chef und Faust-Mitglied Hans-Joachim Irmler seine Homebase hat.
In gut 80 Minuten navigiert die Scheibe mit viel Fingerspitzengefühl von afrikanischen Tribal-Tänzen zu avantgardistischem Vogelgezwitscher, reicht vom Schredder-D’n’B bis zu melancholischen Gitarrenwänden. Ehrensache, dass dabei jede Menge tiefer gelegte Bass-Tracks prominent vertreten sind. Geniale Platte. Das Cover könnte für ihren DJ-Stil nicht passender sein: Man sieht darauf eine Klasse im Sprachlabor. Was uns als charmante Persiflage zum didaktischen Ansatz der DJ Marcelle bringt. Sie kultiviert — und hier kommt wieder Peel ins Spiel — ein Programm, das bewusst breit gefächert ist und »eklektisch« neu definiert. In guter alter Tradition legt sie nur Vinyl auf, ihre Instrumente sind die Platten. Gut, bei ihren Radioshows passiert es, dass sich die eine oder andere CD daruntermischt. Dort gehen sich auch viertelstündige Improvisationsnummern aus, während sie bei den DJ-Sets genau jene Bruchstellen bloßlegt, wo das Publikum nicht weiß, ob es nun zuhören oder tanzen soll.
»Einen großen Einfluss im Denken über Musik hatten für mich Postpunk-Frauenbands wie Liliput, Slits, Kleenex, Raincoats, Delta 5 oder Scream And Dance. Darin fand ich ein Gefühl von Freiheit. Außerdem bin ich einer der größten The-Fall-Fans. Ich will mein Publikum nicht verunsichern, aber es soll aufmerksam bleiben und sich schon auch etwas Mühe geben. Denn an sich sind die Grundbedingungen fürs DJing recht einfach: Gefühl und Intuition. Und, mal ehrlich, was gibt es Schöneres, als eine Platte zu finden, die das Herz berührt? Sie aufzulegen!«
Update Frühling 2009: Heinrich Deisl und Alfred Pranzl waren von ihrem Autritt am Klangbad-Festival im August 2008 so begeistert, dass DJ Marcelle im Dezember zu einem Salon skug ins fluc eingeladen wurde. Sie traf dabei auf DJ Ravissa (Doorbitch). Tags darauf gab es ein Interview und eine Live-DJ-Session bei »Im Sumpf« auf FM4. Es war der österreichische Premierenauftritt für DJ Marcelle. Seitdem ist sie regelmäßiger Radio-Gast und legt alle zwei Monate im rhiz in Wien und und der Stadtwerkstatt in Linz auf. Außerdem wird ihre wöchentliche Sendung »Another Nice Mess« via Radio FRO ausgestrahlt.
»Was Marcelle so auszeichnet, ist neben ihrer unfassbaren Kenntnis von Musik, die Einzigartigkeit ihres Mixes. Sie mischt Dubstep mit afrikanischen Rhythmen, Minimal mit asiatischer Musik und sonstige Elektronik mit südamerikanischer Folklore … Aber so, dass es — nach dem ersten Erstaunen — so wirkt, als habe diese Musik schon immer SO und genau so zusammengehört … Lasst Euch von ihr mit auf eine Reise nehmen, die Ihr in der Form Euch vorher nicht vorstellen konntet.« (Thomas Lechner: Queerbeat, München)
»DJ ist ein Kürzel, Discjockey ein Beruf. Berufung für manche. Jemand, der Musikkonserven abspielt. Sein kreativer Input ist mittelbar, findet sich vor allem in Auswahl und Zusammenstellung der Stücke. Aber seit Hip Hop, Scratching und stufenloser Drehgeschwindigkeit können DJs auch anders. Ausgerüstet mit Mixer und mindestens einem zweiten Plattenspieler, greift er direkt ein, wird zum musical director seiner Plattensammlung. DJ Marcelle ist auch in diesem Sinne DJ. Sie legt Platten auf. Was sie aber heraushebt aus der Masse anderer, die das auch mit Hingabe tun, ist ihre außergewöhnliche Sensibilität. Sie schafft Ûbergänge zwischen einzelnen Stücken, die man als Bruch nicht mehr bemerkt. Es gleitet förmlich ineinander. Ein seltenes Talent, das zu seiner ganzen Schönheit findet, wenn Marcelle zwei, drei verschiedene Stücke simultan ineinander verschränkt, Musik quasi stapelt, live, im Moment, am Set. Ein beständiger Fluss von Improvisation und Struktur. Das verlangt ein unerhörtes Wissen um die Musik an sich und extremes Feingefühl. HIER unterscheidet sich Marcelle von den meisten DJs, die ich bisher kennen gelernt habe, DAS macht sie außergewöhnlich. Bei ihr wird aus Können Kunst, etwas ganz und gar Neues entsteht: DJ Marcelle ist Musikerin. Toll, dass es sie gibt.« (Hans-Joachim Irmler; Klangbad/Faust)