Eine besondere Herausforderung, die sich Wien Modern heuer zum 30-jährigen Jubiläum gönnt: »Das Floß der Medusa« von Hans Werner Henze ist mit über hundert ChorsängerInnen und fast nochmal hundert MusikerInnen auf der Bühne, mit SolistInnen wie Sven-Eric Bechtolf und Sarah Wegener – das ist schon »ganz großes Kino«. Eine Produktion in dieser Größenordnung wird Wien Modern wohl nicht jedes Jahr schaffen. Da packen Wien Modern, das Wiener Konzerthaus und das RSO Wien mit Unterstützung der Ernst von Siemens Stiftung gemeinsam an. Nur dank dieser Koproduzenten ist ein Projekt wie dieses überhaupt denkbar. Das beweist, Wien Modern ist tatsächlich ein riesiges Netzwerk von ProduzentInnen aus der Off-Szene, aus der freien Szene, aber auch mit den größten Institutionen des Wiener Kulturlebens eng verbunden. skug hat den Ermöglicher, Wien-Modern-Intendant Bernhard Günther, getroffen.
skug: Sie haben bei der Pressekonferenz Wien Modern als ein widersprüchliches Festival bezeichnet. Könnten Sie das bitte nochmal erklären?
Bernhard Günther: Ich finde es erfrischend, dass die Neue Musik sich mittlerweile viele Widersprüche gönnt. Klischees sind ja immer vereinfachend, aber die Neue Musik hat doch nicht ganz zu unrecht jahrelang das Klischee mit sich herumgeschleppt, dass ihre Künstler immer behaupten, dass es nur eine einzige Wahrheit gäbe. Aus der Nachkriegszeit gibt es dieses wunderschöne Zitat von Pierre Boulez: »Jeder Musiker, der die Notwendigkeit der Zwölftonsprache nicht spürt, ist nutzlos.« Das war 1952. Die hatten damals ein Selbstbewusstsein bis zum Mond. Das hat ihnen, wenn man das jetzt mal marketingtechnisch betrachtet, damals extrem geholfen. Diese Nummer zieht heute weniger, um es vorsichtig auszudrücken. Diese Klarheit mag manchen Leuten durchaus geholfen haben, sich in der zeitgenössischen Musik zurechtzufinden, aber das Klischee von einem elitären, rechthaberischen Zirkel hat noch viel mehr Leute abgeschreckt, und es hält sich bis heute.
Die Klischees, mit denen ich quasi täglich konfrontiert bin, in Reaktionen auf zeitgenössische Musik als Gesamtfeld, sind entweder 100 Jahre alt und gehen auf Schönberg zurück; dann ist von Zwölftönern die Rede. Oder sie sind 70 Jahre alt und gehen auf die Nachkriegs-Avantgarde zurück; dann ist von Darmstadt oder von Serialismus die Rede. Beides ist schon uralt und wurde längst von vielen anderen Dingen überholt. Wir haben heuer mit größtem Vergnügen auch Schönberg im Programm, wir präsentieren aus dieser Nachkriegs-Avantgarde sogar eine Uraufführung aus den 1950er-Jahren von Jean Barraqué. Aber zugleich haben wir beispielsweise auch ganz viel Musique spectrale im Programm, mit der sich die jungen Komponisten im Paris der 1970er-Jahre verabschiedet haben von diesem Akademismus der Nachkriegs-Avantgarde und dieser technokratisch daherkommenden seriellen und postseriellen Musik. Und noch viel Neueres haben wir sowieso in einem Festival mit über 70 Ur- und Erstaufführungen. Wir sind in einer Situation, wo das Nebeneinander existiert, und das fügt sich zu einem Gesamtbild, das dann in sich eben viel bunter ist als alles, was man vorher gewohnt war.
Jetzt kurz zu dem »French Touch« des heurigen Jubiläumsfestivals. Letztes Jahr wurde ja die Stadt Wien an sich stark thematisiert und flächendeckend bespielt, ist heuer Paris der Sehnsuchtsort der Neuen Musik?
Das ist ein schöner Zufall. Ich habe in Gesprächen mit Komponisten für den Wien-Modern-Katalog immer wieder festgestellt, dass Paris in vielfacher Hinsicht eine gute Ergänzung zu Wien ist. Beispielsweise wurde in Frankreich ja nicht nur die Spektralmusik erfunden, sondern auch die Musique acousmatique und die Musique concrète. Zwei ganz wesentliche Strömungen, die ausschlaggebend für die Entwicklung der elektronischen Ästhetik waren. Pierre Henry haben wir mit einer Filmmusik im Programm. Thomas Gorbach zeigt das Acousmonium mit vielen neuen Stücken aus Österreich, aber genauso mit Beatriz Ferreyra von der Groupe de Recherches Musicales in Paris, die in Frankreich schon in den 1960er-Jahren zu den Pionierinnen der elektronischen Musik gehörte.
Wenn man jetzt beispielsweise mit Tristan Murail redet, einem der großen Komponisten der Musique spectrale, dann hat er sich von allem Möglichen inspirieren lassen, aber nicht von Brahms und Schönberg, die halt in Wien für viele Komponisten und Komponistinnen doch so selbstverständlich zum Plattenschrank gehören. Bei ihm waren es dann eher Debussy oder Richard Strauss oder auch Richard Wagner. In Wien und Paris wurden teilweise vollkommen unterschiedliche Dinge erfunden. Deswegen finde ich die Gelegenheit sehr schön, dass man jetzt heuer in Wien mal so ausführlich nach Frankreich hineinhorchen kann, weil das aus der Wiener Perspektive teilweise wirklich ganz erfrischend klingt.
Das eigentliche Motto ist ja »Bilder im Kopf«. Was steckt alles hinter diesem Titel?
Es ist ja tatsächlich eine Stärke der Musik, dass sie die Fantasie in Gang setzt, dass man etwas hört und das assoziiert mit Orten, Räumen, Personen, Emotionen, Bildern und Farben. Dieser Stärke ist sich die Contemporary Art Music, also die Musik als zeitgenössische Kunst, in den letzten 30 Jahren erst wieder so richtig bewusst geworden. Das war schon eine ziemliche Revolution. Da sind wir beispielsweise wieder in den 1970er-Jahren, als junge Komponisten wie Tristan Murail in Paris Stücke geschrieben haben, die plötzlich »Dreizehn Farben der Abendsonne« (»Treize couleurs du soleil couchant«) oder später beispielsweise »Die mystische Barke« (»La Barque mystique«) hießen. Das war ein Bekenntnis zur Assoziation.
Hugues Dufourt, von dem wir heuer viele Stücke im Programm haben, ist nicht nur ein Ohrenmensch sondern auch ein Augenmensch, und seine Art, Bilder zu sehen, hat viele musikalische Innovationen in Gang gesetzt. Wir präsentieren heuer sein Stück »Les continents d’après Tiepolo« nach dem größten zusammenhängenden Deckenfresko der Welt. Giovanni Battista Tiepolo malte im Barock in der Würzburger Residenz eine Allegorie der damals bekannten vier Kontinente. Ûber Afrika sieht man da einen unwirklichen, ockergelben Himmel, und Dufourt hat sich gefragt, »wie kriege ich das jetzt als Band gespielt«, wie Helge Schneider sagen würde. Daraus entstanden dann wirklich vollkommen neue Klangfarben, durch neue Spieltechniken. Die Komponisten der Spektralmusik haben mit Hilfe von Computeranalysen genau geschaut, was beispielsweise in den ersten Millisekunden eines Klangs von einem Musikinstrument passiert. Und mit diesem Wissen entstand eine meist gar nicht mal elektronische, sondern instrumentale Musik, die vollkommen neu klang und die bewusst sehr assoziativ war, ungeniert wieder mit Emotionen und Farben arbeitete.
Das ist ein riesiges Thema der zeitgenössischen Musik, das heuer bei Wien Modern eine große Rolle spielt. Auf ganz unterschiedliche Art; manchmal ist das Kopfkino pur, wie bei Olga Neuwirth, die mit einer vielkanaligen Lautsprechermatrix die Raumakustik einer alten Kirche in Venedig simuliert. Und es gibt auch Projekte, wo das Publikum tatsächlich etwas zu sehen bekommt: »J’accuse« von Abel Gance mit Musik von Philippe Schoeller, diese Kombination von einem sehr unkonventionellen Spielfilm von 1918/1919 mit den Wiener Symphonikern und Live-Electronics von Schoeller. Als quasi erster »embedded Journalist« dreht Gance 1918 auf den Schlachtfeldern bei Verdun mit echten Soldaten einen großen Antikriegsfilm, und Schoeller lässt daraus ein immersives multimediales Erlebnis werden.
Ich frage jetzt mal abschließend etwas platt: Wie politisch ist Neue Musik 2017?
Wie politisch ist zeitgenössische Musik? Da muss man zuerst einmal unterscheiden zwischen Gesellschaftspolitik und Parteipolitik. Gesellschaftliche Fragen finden sich oft in der Musik. Und zweitens muss man sich die Vielfalt der im Festival präsentierten Kunst vor Augen halten, das lässt sich nicht alles über einen Kamm scheren. Ich bin aber insgesamt froh, dass zeitgenössische Musik sich immer öfter als eine Kunst zeigt, die Stellung nimmt zur Gesellschaft der Gegenwart. Da sind wir wieder bei den Klischees und dem Elfenbeinturm, der niemanden mehr interessiert. Das ist aber auch nichts vollkommen Neues, wie man bei der Festivaleröffnung am Stück von Hans Werner Henze sieht, »Das Floß der Medusa« von 1968.
Wenn man sich bei der Gestaltung eines Festivals rein auf die künstlerischen Fragen konzentrieren möchte, dann heißt das in der zeitgenössischen Musik inzwischen, dass man nicht übersehen darf, dass zu den künstlerischen Fragen eben auch gesellschaftliche Fragen gehören. Insofern ist die Musik, die bei Wien Modern zu erleben ist, eben nicht abstrakt und aussagelos, sondern wirklich mit aktuellen Bezügen komponiert. Auch im Stück von Olga Neuwirth beispielsweise, »Le Encantadas« (»Die verzauberten Inseln«), findet sich vieles über gesellschaftliche Ideale, Herman Melville als philosophischer Betrachter einer anderen Welt, ein Blick auf die Kielspur, die wir auf unserer Fahrt im Wasser hinterlassen, aber all das ist meilenweit entfernt von Tages- oder Parteipolitik.
Ein politisch durchaus aktuelles Experiment, auf das ich sehr gespannt bin, ist die Uraufführung von Iris ter Schiphorst im Claudio-Abbado-Konzert am 4. November. Es ist ein wirkliches Wagnis als künstlerische Reaktion auf das Thema »Bilder im Kopf«: Sie lässt die Solistin ihres Orchesterstückes teilweise so auftreten, wie man es von Sopranistinnen in der westlichen Welt halt gewohnt ist, und teilweise als verschleierte arabische Frau. Das Experiment findet also in den Köpfen der Zuschauer statt: Was erzeugt bei uns die Bilder im Kopf? Wir haben ja gerade diese brandaktuelle Debatte um das Verschleierungsverbot, wo man täglich in der Zeitung liest, dass die Polizei schon wieder einen Plüschhasen auf der Straße angehalten hat. Wir konnten natürlich vor ein, zwei Jahren, als das Projekt entstand, nicht im geringsten ahnen, dass diese Debatte jetzt so hochkochen würde. Gemeinsam mit der Librettistin Helga Utz hat Iris ter Schiphorst altarabische Texte aus der vor- und frühislamischen Zeit ausfindig gemacht, die beschreiben, wie die Welt völlig aus den Fugen geraten ist, und dass uns nur ein tiefer Humanismus da heraushelfen kann. Das kann die Kunst ja oft besser als die Politik: sich aus diesem rasenden »Schwindel der Wirklichkeit« ein bisschen zu erheben und den Blick auf die größeren Fragen zu lenken.
Wien Modern 2017
31. Oktober bis 1. Dezember