Genau genommen verdanke ich diese Akkreditierung für den zweiten der beiden Anthony-Braxton-Abende meinem Freund E., der mich bereits im Jänner darauf aufmerksam machte, dass da ein ganz Großer den beliebten Jazzkeller in der Riemergasse beehren würde. Ich, der ich alles andere als ein profunder Jazzkenner bin, machte mich also schlau, was es denn mit dem mysteriösen Mr. Braxton genauer auf sich habe, dessen Name mir zwar schon geläufig war – aber auch nicht mehr als das. Bei meinen Investigationen entdeckte ich einen kaum kategorisierbaren, sehr theorielastig komponierenden Avantgarde-Musiker (der nebenher gern als Wortführer der »Black Culture« auftrat), dessen auf Platte bzw. CD gepresstes Werk phänomenale 150 Longplayer umfasst, von denen allerdings nur mehr ein Bruchteil regulär erhältlich ist. Darin enthalten sind bei weitem nicht nur mehr oder minder eindeutig dem Jazz zuordenbare Werke, sondern auch Orchesterwerke und Opern (Braxton-Experten mögen mir diese einführenden Worte verzeihen). Diesmal sollte Mr. Braxton aber mit einer »traditionellen« Sextettbesetzung auf der Bühne stehen.
Saxofonhopping mit Meeresmuschel
Fast pünktlich mit dem akademischen Viertel bezieht das Sextett Bühnenposition, dessen vordersten Außenposten eine Sanduhr bildet, die offenbar den geplanten Zeitrahmen vorgibt. Von Beginn an Instrumenten dabei sind ein Bass, ein Beserlschlagzeug, eine Violine und eine Tuba, deren Zusammenspiel im Laufe des Abends noch so mancher Mutation unterzogen werden sollte. Und dieses Zusammenspiel hatte es in sich: Von Beginn an das ansonsten eher an Popklängen geschulte Ohr des Rezensenten (über)fordernd, spülte hier ein komplexes Mit – und Gegeneinander der Instrumentalisten von der Bühne, welches das Publikum trotz seiner (vordergründigen) Ernsthaftigkeit in seinen Bann zu ziehen vermochte. Hat hier jemand was von E-Musik gesagt? Ohja, denn über nicht gerade kurze Strecken würde ich in meinem Schachteldenken von einer Performance in Sachen E-Musik sprechen. Wenn auch die Höhepunkte der zweigeteilten Show für mich eindeutig in jazzigeren Gefilden zu verorten waren. Die Avantgarde-Legende Braxton wechselte Alt-, Bariton-, Tenor- und Kontrabass-Saxofon in oft atemberaubender Geschwindigkeit, wobei aber niemals der Eindruck von Beliebigkeit aufkam, am anderen Bühnenrand kam sogar eine Meeresmuschel zu ihrem prominenten Einsatz.
Schweinsohr und Bierpause
Trotzdem – das Sextett weiß schon genau, warum der Zuhörerschaft nach ca. einer Stunde eine Pause gegönnt werden muss, die dann auch großzügig ausfiel. Schließlich will man sich ja auch einmal ein Bier holen, ohne gleich das Gefühl zu haben, die Jazz-Auskenner beim Hörgenuss empfindlich zu stören. Ich für meinen Teil war bereits nach einer Stunde derart von der musikalischen Dichte und Komplexität überladen/fordert, dass ich mich im zweiten Teil diskret in den hinteren Zuseherbereich zurückzog, und der Performance mit nicht mehr ungeteilter Aufmerksamkeit folgen konnte. Für mein Schweinsohr anscheinend doch zuviel aus der akademischen Soundküche, für wirkliche Jazzkenner und -liebhaber muss dieser Abend, wie man nicht zuletzt an den zufriedenen Gesichtern feststellen konnte, ein musikalischer Leckerbissen gewesen sein.