Fotos: J. Aceituno / Hans Kotter
Fotos: J. Aceituno / Hans Kotter

ALVARO – Ein System wird siebzig

Am 7.12 feiert ALVARO Geburtstag. Grund genug seine Huldigung aus skug 95 online zu stellen.

Punk, Gentleman und Eremit. Seit über 35 Jahren kultiviert ALVARO seinen Mikrokosmos der simplen Formen und ursprünglichen Findungen. Ist er ein Meister des Minimalismus oder einfach der ehrlichste Falschspieler der Welt? Oder gar ein spirituelles Genie? Gewiss, it's simply ALVARO.

Seit ein paar Jahren erhalte ich wieder Briefe. Auf Maschine getippte Mitteilungen aus ALVAROS Bastelstube entfalten sich und entführen einen in ein anderes Medienzeitalter. La edad de papel – ALVARO liebt Papier! Kleine Bleistiftschiffchen mit Fähnchen und Segelchen dran umspülen als handschriftliche Randnotizen meist das sublime Erscheinungsbild dieser gestempelten Briefe, dank derer ich mich als Teil eines weltumspannenden Mail-Art-Netzwerkes fühlen darf. Aufwendig gestaltete Briefe, in denen viel Zeit steckt. Aber wer um alles in der Welt ist ALVARO?

Nun, die Schiffchen scheinen immer dieselbe Geschichte erzählen zu wollen: Eine von Kindheit und Jugend in einer tropischen Hafenstadt am Pazifik, von der Fahrt ins Blaue und dem Exil ohne Wiederkehr. Vom Saxofonspiel bei Los Challengers und Los Bumerang, Tanzmusikcombos, die auf der Modewelle der Sixties schwammen. Von der Nachricht vom Putsch im September 1973 und davon, dass Salvador Allende, der genau wie Alvaro Peña- Rojas aus Valparaíso stammte, ermordet worden war und der Faschismus in Chile gesiegt hatte. Erzählen vom lausigen Leben im Improvisorium, in den Squats von Shepherd’s Bush. Von den Zimmernachbarn, Paloma »Palmolive« Romero von den Slits, und Joe Strummer, mit dem ALVARO The 101ers gegründet hatte, die hauseigene R’n’B-Pubrockband, bevor Joe mit The Clash Karriere machen sollte. Erzählen vom kargen, aber kompromisslosen Leben eines asketischen Künstlers und von der Entdeckung eines Valparaíso am Bodensee: Konstanz, seit nunmehr dreißig Jahren ALVAROS Heimat.

2008 hatte ein bayerisches Filmteam sich dorthin aufgemacht, den seltsamen und spartanisch lebenden Außenseiter zu portraitieren. Die Szenen aus »Full Dedication ALVARO« zeigen einen ebenso radikalen wie bescheidenen Avantgardisten und gleichsam spirituellen Menschen, der in völligem Einklang mit seiner Arbeit lebt. Von dessen künstlerischer wie moralischer Integrität zutiefst beeindruckt, rief ich sofort bei ALVARO an. Er schien auf so einen Anruf gewartet zu haben und war guter Dinge. Wenn ich eine Platte haben wolle, so erfuhr ich, müsse ich einen Geldschein in einen Brief stecken und ihm schicken. »Und das ist sicher?« Ich war ganz verdutzt. »Aber ja, sogar aus Japan bekomme ich Geldbriefe. Das ist sicherer als mit den Banken.«

Das gefiel mir. Ich lud ALVARO zu einem Konzert nach München ein. Bei den Vorbereitungen bemerkte ich schnell, wie wichtig ihm dieser Abend war. Ein Ereignis, auf das es sich vorzubereiten galt, wie auf eine transatlantische Reise. Und dann: ALVARO. Meister der Konzentration, der Reduktion auf das Wesentliche, der Intensität. Und zwischendrin schelmische Clownereien wie sein Spleen, Klavier, Casio oder elektroakustisches Clavinet nur mit weißen Samthandschuhen zu betasten. Es war ein erhabener Abend, weitere sollten folgen, und seitdem werde ich mit Briefen beglückt.

Do It Yourself
In seinem jüngsten Brief berichtet ALVARO von neuen Ufern, von seinem Aufenthalt in Rio und einer Sängerin, die dort seine Lieder interpretiert. Die Stempeldrucke auf diesen Briefen sagen immer: »ALVARO – the Chilean with the singing nose«. Die sind von einem Stempel, der vermutlich zur Bewerbung von ALVAROS Debüt »Drinkin My Own Sperm« hergestellt worden sein mag. Ein Brief erzählt die Geschichte von den Bewerbungsproblemen für dieses erste Kind. Lustigerweise wird darin die Silberhornstraße in München-Giesing zum Wegweiser in die Vergangenheit, erinnert diese ALVARO doch bei einem seiner Gastspiele in München an die Silverthorne Road in London, Clapham. Dort befand sich 1977 Recommended Records, das hauseigene Label der Gruppe Henry Cow. Die Tatsache, dass dort ein unbekannter chilenischer Paradiesvogel ein und aus ging, scheint laut ALVAROS Bericht für die Gruppe eine Zerreißprobe dargestellt zu haben, denn gern gesehen war er dort nicht unbedingt. Lediglich Nick Hobbs hörte etwas in »Drinkin My Own Sperm«, das ihm gefiel. Chris Cutler hingegen hasste das Album und bezeichnete es als das »vulgärste Ding«, das ihm je begegnet sei. Cutler verhinderte in letzter Minute, dass die Platte bei Recommended Records vertrieben wurde, was ihm bis heute den Titel »Erzfeind von Alvaro Peña-Rojas« einträgt, doch Hobbs protegierte ALVARO und übernahm den Vertrieb der Platte.

alvaro.jpgGut möglich, dass über ALVARO Henry Cow zerbrach, denn ein Jahr später gab es die Gruppe nicht mehr. ALVAROS Platte wurde schließlich aus der Silverthorne Road verbannt und fristete bei Rec Rec in Zürich jahrelang in Kisten ein trauriges Dasein. Nachdem der dortige Vertriebsmann gestorben war, landeten sie, von Mäusen zernagt, in Konstanz. Nun darf man sich eigentlich nicht wundern, dass einem Album mit dem Titel »Drinkin My Own Sperm« ein schwieriger Start beschert war, aber heute, da das Werk ALVAROS längst seinen Kinderschuhen entschlüpft ist, amüsiert es natürlich, rückblickend zu vernehmen, wenn etwa Programmgestalter vom Sender WMFU aus New Jersey schreiben: »We would kill for ALVARO Records.« Und es an anderer Stelle heißt, dass diese krude Mischung aus lateinamerikanischer Folklore, ostinatohafter Pianomusik à la Keith Jarrett, Minimalpop oder naiver Miniaturen die britische DIY-Szene der frühen 1980er Jahre mit ins Rollen gebracht haben soll. In den Kontext von »Do it yourself!« gesetzt, ergibt der Titel »Drinkin My Own Sperm« möglicherweise auf ganz anschauliche Weise Sinn.

In einer von Hand kopierten Selbsthilfebroschüren von Alan Jenkins (Kopf diverser DIY-Bands, u. a. The Deep Freeze Mice und The Chrysanthemums) mit dem Titel »How to be in a pop group«, die eigentlich eher eine Satire ist, wird »Drinkin My Own Sperm« in einer Liste von zehn LPs geführt, die laut Jenkins bei weitem besser seien als das meiste, was in den Charts gelistet ist, von denen es aber statistisch gesehen sehr unwahrscheinlich ist, dass man von ihrer Existenz je gehört hat.

Radikaler Existenzialismus
ALVARO zog aus dem Ärger mit Henry Cow jedenfalls Konsequenzen und veröffentlichte ab seinem zweiten Album »Mums Milk Not Powder« nur noch auf seinem eigenen Label Squeaky Shoes Records. Auf dieser Platte dreht sich alles um Fragen der Ernährung, bis hin zu »Washing The Dishes«. In »Marzipan Elefant« heißt es etwa: »Einen Elefant aus Marzipan, Mädchen, möcht ich dir geben. Jaja. Probier von seinem Füßchen, probier von seinem Auge, probier von seinem Hintern, probier mal seinen Rüssel.«

Wegen eines Stücks auf dieser Platte verlor ich einmal mein monatliches DJ- Engagement im Münchener Club Pimpernel. Dabei ist »Pajarito« das sanfteste Stück Musik der Welt. Es handelt von einem Kanarienvogel, der, in seinem Käfig eingesperrt, den Klängen aus dem Radio lauscht, doch angeblich soll der »Pajarito« den Clubabend in ein tristes Stimmungstief gezogen haben. Seitdem lege ich bei jedem DJ-Engagement mindestens ein Stück von ALVARO auf.

Eine gestalterische Kontinuität im weiteren Werk ALVAROS sind die streng schwarzweiß gehaltenen Covers mit Großbuchstaben und sonst nichts. Hier werden Erinnerungen an die Lettristen wach, an die man auch inhaltlich auf der relativ aktuellen Platte »The Tongue« (2010) denken könnte, mit den gutturalen, nonverbalen Lauten, die das Mundwerk und den Sprachraum neu erforschen und entdecken wollen.

Hinter den Covers warten immer sowohl die naiven Kinderlieder, die uns zum Lachen bringen, als auch die todtraurigen Boleros und pathetischen Lamenti, die uns ein Meer aus Tränen weinen lassen. Und oft genug steckt im Unausgesprochenen eine erhabene Poesie. Konzentrate, in denen simple Phrasen solange beharrlich wiederholt werden, bis sie ihr Wesen oder ihre Essenz offenbaren. Das Meisterwerk dieser Technik ist das 1988er- Album »Is The Garment Ready?«, woran nicht zuletzt auch ALVAROS damaliger Bassist Jens Volk Anteil hat. Das vierzehnminütige »Part Three« war ein völlig neues Hörerlebnis für mich: Eine Basswolke, die so leise und schwindsüchtige Nebelschwaden dahinlullt, befördert einen direkt ins Wolkenkuckucksheim, doch dann hämmern immer wieder ungeduldige Klaviertasten an die Tür, und eine Stimme schnarrt: »Is the garment ready? They are already knocking.« ALVARO erzählt mir später, er habe das Album in der festen Ûberzeugung gemacht, den Tod unmittelbar vor sich zu haben. Es kam anders.

Exil auf Lebenszeit
In direkter Nähe zum Tod wird ALVARO dieses Jahr zumindest auf der Leinwand zu sehen sein, wenn er in dem Film »Die Erfindung der Liebe« von Lola Randl zu einer Begräbnisszene sein »Why wasn’t I made out of wood like Pinocchio« singt. Außerdem hat der am 7. 12. 1943 geborene ALVARO zu seinem Siebzigsten ein neues Album vorbereitet – es heißt »Mañana« und beinhaltet seine erste Exkursion in die elektronische Musik. Natürlich kann er es nicht lassen, im Pathos schwelgend zu weinen wie noch nie. Und dann steht man als Zuhörer einen Augenblick lang wieder ratlos vor der Tür, während ALVARO »I hate to compete« schreit, aber einen Augenblick später ist man drin im System ALVARO, und alles ist klar und ergibt Sinn.

Vielleicht ist die schönste Platte für mich aber eine, die es gar nicht gibt: ein verschollenes Album mit dem Titel »Reaching For The Masses «. In einem Brief berichtet ALVARO von der Entstehung im niederbayrischen Exing unter der Regie von Anton Bubenik, der die Aufnahmen nur auf Cassette veröffentlichen ließ. Er war überzeugt, dass die Cassette eines Tages das Vinyl ablösen würde. Als Opfer seines Alkohol- und Nikotinkonsums starb er kurz nach vollendeter Arbeit, das Studio soll unter ungeklärten Umständen kurze Zeit darauf abgebrannt sein. Es trug den Namen The Good Life.

Ein Song bleibt für alle Zeiten: »I’m Not So Young Anymore«. ALVARO ist der Mann, der aus Valparaíso kommt. Und das ist der Trick, der ihn unsterblich macht, ein Trick, den er mit der Schlusszeile »Nunca me verá morir« in sein Leitmotiv »Valparaíso« einbaut: »Valparaíso wird mich niemals sterben sehen.« ¡Feliz cumpleaños, ALVARO!


Auswahldiskographie

»ALVARO & Fatiga: My Friend Joe / The Bank Snatchers« (Yellow Vinyl Single, 2012)
»The Tongue« (LP, 2010)
»Las Canciones De ALVARO Peña« (2 Books & 1 CD, 2008)
»Is The Garment Ready?« (LP, 1988)
»Repetition Kills« (LP, 1982)
»Mums Milk Not Powder« (LP, 1978)
»Drinkin My Own Sperm« (LP, 1977)

Home / Musik / Artikel

Text
Pico Be

Veröffentlichung
05.12.2013

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