Während meiner ersten Tage unter der spanischen Sonne machte ich mir ernsthaft Gedanken über meine Partykultur. Sollte sie während des mehrmonatlichen Aufenthalts hier vielleicht zwischen spanischen Pop-Rock-Dorfparties und Trance-Raves ersticken? Aber ich gab die Hoffnung nicht auf und begann unter der Oberfläche zu graben. Heraus kamen viele schöne Überraschungen und die Aussicht auf eine aufregende Elektronik-Zukunft aus dem Süden.
Die Geschichte von Women Affair ist eine junge und vielversprechende. Es handelt sich um zwei DJs und Produzenten aus Madrid, Guillermo Baque und Sergio Revilla. Die Grenzen zwischen sexy Techno, dreckigstem Elektro und einem Schuss Pop werden aufgebrochen und mit einem hämischen Grinsen und laszivem Augenzwinkern vermischt. Ihre erste Veröffentlichung »Dance like a whore« kam auf Alex Stark’s Star Whores-Label heraus. Diese erweckte die Aufmerksamkeit von Ascii.Disco, Hakan Lidbo und Dick Voodoo, die sogleich für Kooperationen und Remixe herangezogen wurden. Im Juni 2006 kam die sehr empfehlenswerte »My Cousin’s Blowjob EP« auf dem französischen Label OD-Records heraus.
Jaumetïc alias Jaume Pagés aus Barcelona treibt schon seit 1992 sein musikalisches Unwesen. Er betreibt seit 2002 sein erfolgreiches und höchst spannendes Label Regular, das sich für sehr qualitäts- und stilvollen Minimal verantwortlich zeigt, und hat weitere Veröffentlichungen auf Ware, Pulswith und Tunningspork. Ans Herz gelegt sei insbesondere mein persönlicher Favorit, sein Track »Rai Canone« (REG011), aus wunderschönen, treibenden Minimal-Fragmenten bestehend. Gehen wir also den Höhen und Tiefen der spanischen Elektronik-Kultur auf den Grund:
Wenn ein großer Teil des zur Zeit spannenden Elektro-Minimal aus Deutschland, UK und USA kommt, so wäre es interessant, zu erfahren, welche spanischen Produzenten und Labels euch in eurem Schaffen beeinflusst haben.
Women Affair: Unsere Einflüsse kamen anfangs eigentlich nicht aus Spanien; auch weil die Elektronik-Kultur hier noch als sehr jung bezeichnet werden kann. In diesem Land scheint es so, als hätten wir einfach immer diese Manie, alles »Fremde« mehr zu schätzen als das »Eigene«. Wir hören und bewundern allerdings viele spanische Labels und Künstler wie Regular, Factor City, Jaumetïc, Iñaki Marín, Swat Squad etc… Das sind unglaubliche Künstler, die Spanien sehr viel weiterbringen.
Jaumetïc: In Spanien hat auf dem Gebiet der elektronischen Musik nie eine so stabile Szene bestanden, und zwar nicht nur auf dem Niveau der Produzenten, sondern von allem, was das auf dem Musiksektor ausmacht, von Vertrieben über die Clubszene etc. Wir sind vielleicht Teil einer neueren Bewegung, etwa mein Label Regular, Factor City oder CMYK Musik (das Label von Trapez-Zugpferd Alex Under, Anm.). Es gab also eine »Gründungswelle« von neuen Labels, aber in Wirklichkeit glaube ich, dass keiner von uns wirklich von Leuten beeinflusst wurde, die »in der Nähe« waren. Natürlich gibt man sich gegenseitig Ratschläge und hilft sich gegenseitig, aber auf professioneller Ebene hatten wir diese Unterstützung leider nie. Der Erfolg kam nun, weil wir immer mit Leuten aus dem Ausland, zum Beispiel einem internationalen Vertrieb (Kompakt, Anm.) zusammengearbeitet haben.
Schonungslos ehrlich! Klingt also schon mal eher entmutigend. Oder verspricht die »neue Bewegung« eine strahlendere Zukunft? Es fällt auf, dass international bekannte Künstler wie Alex Under, Ferenc und Jaumetïc vermehrt Titel auf Spanisch verwenden (z.B. »Dispositivos de mi granja«, »Sandia«, »Quien marca se pone« …). Es scheint so, als ob die Szene mehr Persönlichkeit und Selbstbewusstsein bekommt?
WA: Zweifelsohne hat man viele Komplexe verloren. Es kann sein, dass man nun weniger Scham zeigt, seine Tracks auf Spanisch zu betiteln, und sicherlich ist es zur Zeit auch ein bisschen in Mode.
J: Mir persönlich gefällt es, der Elektronik etwas von ihrer Dramatik und Ernsthaftigkeit wegzunehmen. In Spanien gab es immer mehr Neid, sowohl untereinander als auch auf die Szenen anderer Länder und Städte (z.B. Köln), die besser organisiert waren und funktionierten. Wenn man selbst unsicher ist, bewegt man sich nicht fort. Ich glaube wirklich, dass unser Selbstbewusstsein erst langsam Schritt für Schritt aufgebaut wird.
Wart ihr schon mal in Ibiza?
WA: Nein, wir sind unter den ganz Wenigen die noch nie dort waren.
J: Nein, weder beruflich noch privat.
Hier schneiden wir ein altes, verkrustetes Klischee an. Mega-Raves und kollektive Massen-Berauschungen lassen schlimme Vorurteile aufkommen. Findet ihr, dass man das, was man auf Ibiza hört, als »typischen spanischen elektronischen Sound« bezeichnen kann, oder gibt es vielleicht eine andere Alternative? Was trägt Ibiza zu Spanien bei?
WA: Auf keinen Fall! Ibiza hat mit der spanischen Elektronik-Kultur nichts zu tun. Es ist Massenabfertigung und Massengeschäft und hat mit dem spanischen Underground, woher alles Neue und Frische kommt, nichts zu tun.
J: Ibiza hat mit allem mehr zu tun als mit Spanien. Für mich ist es allerdings wie eine Tür, durch die viele Leute die Welt des Clubs kennengelernt haben, auch wenn es sich dabei um eine verrückte betrunkene Ferienwoche handelt. Heute sind Cocoon, Kompakt oder Get Phizical ständig präsent, und das trägt dazu bei, dass die Menschen, die normalerweise Eric Morillo und Danni Tenaglia zuhörten, nun auch zu jenen neuen Abenden hingehen, und das erscheint mir ein gutes Zeichen, zumindest für die breite Öffentlichkeit.
Und was bringt die Zukunft?
WA: Die Elektronik-Kultur unseres Landes hat eine strahlende Zukunft, es blüht nur so vor neuen Labels und Künstlern und endlich mehr Zusammenarbeit. Wir zwei haben im letzten Jahr wie verrückt neue Ideen aufgenommen, die jetzt einmal überarbeitet werden müssen. Gerade kam unser neuer Remix von »Two Saturdays« von Santi Ferrer auf Votox Records aus Barcelona heraus.
J: Wir haben gerade unser neues Label Irregular eröffnet; im Herbst kommt die erste Veröffentlichung heraus. Regular und Irregular sind wie Yin und Yan, das eine kann ohne das andere nicht existieren. Natürlich liebe ich die Elektronik, aber sie macht nur einen so kleinen Teil der ganzen guten Musik dieser Welt aus. Ab einem gewissen Punkt reichte Regular also nicht mehr aus, sowohl für diverse Artists, die ich gerne signen wollte, als auch für meine eigenen, experimentellen Projekte. Irregular ist also für alles abseits der »DJ- und Club-Elektronik« gedacht. Es ist auf keinen bestimmten Stil fixiert; man könnte auch sagen, es ist ein Label, das konzeptuell von Morr Music und Kitty Yo bis zu einem Superambient-Label wie Extreme aus Japan reicht, es gibt keine Limits. Allgemein glaube ich, dass wir in Zukunft hier in Spanien auf einen organischeren Sound zurückkommen werden.
Hier endete meine Entdeckungsreise vorerst, aber die Impressionen reichen für viele weitere Stunden des Forschens und Genießens. Wer nun wissen will, wie die junge spanische bzw. französische (Mondwest aus Le Havre) elektronische Zukunft klingt, der kann dies im Oktober im Rahmen des salon skug überprüfen.
Salon skug im Fluc:
Do. 12.10., ab 21 Uhr
Live: Women Affair (E)
Live: Mondwest (F, OD-Records-Labelboss!)
DJ Dent