Nirgendwo sonst in Tschechien vollzieht sich der Niedergang der von den Kommunisten verherrlichten Kohlen- und Stahlindustrie in einer derart morbiden Ästhetik. Die einstige Boomtown, die unter den von den Nazis enteigneten Rothschilds den Zenit erreichte, ist zehn Jahre nach der samtenen Revolution an den Rand gerückt. Die Atemluft hat zwar mittlerweile je nach Bezirk hohe Qualitätsstandards erreicht, doch beträgt die Arbeitslosigkeit 15 %. Kein Wunder, wo Prag, dessen Agglomeration Zukunftsindustrien anlockt, mehr denn je Zentrum ist. Die Stadtpolitiker verabsäumen indes, das einst glorifizierte Industrieerbe zu retten. Im Stadtteil Vítkovice sind die 1995 stillgelegten Monumente einer Industrieepoche von der Abrissbirne bedroht. Leider ist vom prächtigen Ensemble mit drei Giganten als Paradebeispiel von parallel ablaufenden Produktionsprozessen – Minenturm, Kohlekraftwerk, Stahlwerk – das Kraftwerk, dessen Ziegelmauern im Secessionsstil gehalten waren, bereits zerstört worden. Zu gunsten einer breiteren Zufahrtsstraße in die City Ostravas.
Kein Bürger Ostravas weiß genau, ob beim verbleibenden Rest Spekulation im Gange ist oder auf den bis in große Tiefen kontaminierten Grundstücken die Ansiedlung neuer Betriebe gelingen könnte. Jedenfalls hätte das Industrieensemble, das die Skyline Ostravas immens bereichert, durchaus das Zeug zum UNESCO-Weltkulturerbe. Anderswo – wie etwa im Meidlinger Kabelwerk in Wien – wären in die grobe Anzeichen des Verfalls tragenden Verwaltungsgebäude längst kulturelle Einrichtungen eingezogen. Nicht jedoch in Ostrava, wo die Künstler der Stadt nicht einmal einen Teil des verfallenden Schlachthofes – ein Ziegelbau ähnlich der Wiener Arena – abringen konnten. Das Areal um den denkmalgeschützten (allerdings werden Behördenauflagen mittels Korruption oft umgangen) Gebäuderest hat übrigens das deutsche Unternehmen Bauhaus (!) okkupiert.
Slawischer Musikkosmos, mit Westingredienzen gewürzt
Minen-Museen befinden sich eher an der Peripherie, etwa die Dul Michal im Bezirk Michálkovice, eine 1993 mangels Rentabilität geschlossene Kohlenmine, in der seit 1912 Maschinen der Siemens-Schuckert-Werke aus Wien in Betrieb waren. Der Höllenlärm der Umluftturbinen, die die Minenkumpel mit Frischluft versorgten, kommt nur noch aus der Tonkonserve. Da sich das Ganze wie grobschlächtiger und doch durchstrukturierter Prä-Industrial anhört, würde dieser Sound in Elektronikmusikcafés wie dem Wiener rhiz durchaus Furore machen.
In Ostrava jedoch existieren nur zwei Musiklokale, die elektronische und gehobene Dancefloor-Musik kredenzen. Wegen darin experimentierender Musiker, okayen DJs und des bizarren Interieurs – ein ehemaliges öffentliches WC, dessen Pissoir in die Innenarchitektur einbezogen wurde -, ist das Hajzly besonders zu empfehlen. Streifzüge durch weitere Kneipen sorgen zwar für Kulturschocks (langhaarige Jungs tanzen Luftgitarre spielend zu Doors etc.). Das preiswerte und äußerst geschmackvolle tschechische Bier, das 17 bis 22 Kronen – umgerechnet nur fünf bis sieben österreichische Schillinge – kostet, und die ihre Englisch- und Deutschkenntnisse probende Jugend vermögen allerdings darüber hinwegzutrösten.
Multiartist Jirí Suruvka
Überhaupt erschloss sich auf den zahlreichen Trips nach Jihlava (Iglau), Olomouc (Olmütz), Frýdek Místek, Štramberk oder in die Beskyden in Jirí Suruvkas rostigem Lada ein eigener Musikkosmos, der weit über Residents, Ice-T oder Balanescu hinausgeht. Suruvka, der in seiner Kabaretttruppe Už jdou a ladí trumpety („Sie gehen ja schon und stimmen die Trompeten???) gerne auch Rocksänger mimt, spielt neben tschechischen und slowakischen Kassetten (etwa Dežo Ursiny) gerne auch polnische (die HipHop-Kaiser Kazik) oder Bands aus Ex-Jugoslawien . Beispielsweise Goran Bregovic??? Bjelo dugme oder Ribja Corba, deren Hit „Ostacy slobodan??? („Ich will frei bleiben???) der 39-Jährige mit Hingabe brüllt. Immer noch gibt es im slawischsprachigen Kulturkreis Neues zu entdecken, was ohne sachkundige Guides nicht so leicht ginge.
Waren in den kommunistischen Kriegspropagandafilmen die deutschen Wehrmachtssoldaten die wahren Helden nicht nur der Künstler von Ostrava, so hat bei Jirí Suruvka eine bewundernswerte Verinnerlichung der deutschen Sprache, die auf seine Vorliebe für NDW-Gruppen wie Trio oder DAF zurückgeht, stattgefunden. Keiner donnert wie er das Wort „Bürrrgerrrmeisssterrr??? und eine gewisse Bewunderung für die gefährlich zündelnden Rammstein will er gar nicht leugnen. Als Jugendlicher musste er 1985 beim legendären Gastspiel von Der Plan als Kartenabreißer miterleben, dass jeder zweite Besucher ein nicht Zahlender von der „kommunistischen Gestapo??? war. Vielleicht deswegen liebt er Verballhornungen des Nazijargons, da ja die Auswüchse des sozialistischen Totalitarismus bereits genügend abgehandelt wurden. „Der Wiener Pilzführer???, ein anlässlich seines von KulturKontakt ermöglichten Wien-Stipendiums entstandenens Bild, zeigt mit Schwammerlköpfen ausgestattete Polizisten, die den Hitler darstellenden Schauspieler Hubsi Kramar auf dem Opernball 2000 verhaften. Auf nachgerade absurde Weise vereinen sich hier Suruvkas kulinarische Faszination für Pilze und die Widerlegung des Vorwurfs der nationalsozialistischen Wiederbetätigung: Kasperl machen Kasperl dingfest.
Galerie Jáma 10
Warum aber überwiegt in seinem Werk, das in einer Sonderausgabe („Arbeit Macht Frei??? 6-7/98) der Kunstzeitschrift „Umelec??? u. a. von den Kuratoren Jana und Jirí Sevcík beschrieben wird, Gemaltes? „Die Prager Galeristen nähmen 50 % Erlös von meinen Objekten oder Installationen. In Ostrava bekomme ich für meine Bilder 100 %. Nur sind halt die Käufer noch lange nicht so weit, dass sie statt Malerei Video- oder konzeptuelle Kunst kauften???. Mit „Fyzika??? stellte der Prager Künstler Tomáš Hlavina (er war bei „Aspekte, Positionen??? im Museum Moderner Kunst Wien vertreten) in der städtischen Galerie Výtvarného Umení also kaum verkäufliches konzeptuelles Raummobiliar aus. Auch Jirí Suruvka, der seine internationale Positionierung u. a. einem US-Stipendium der Soros Foundation verdankt, verfügt über eine eigene Galerie. In der Jáma 10 wird ab Oktober ein Teil des ??uvres des weißrussischen Performers Victor Pietrov ausgestellt. Die Einladung erfolgt auf eigene Kosten, da die Jáma 10 im Jahr 2000 keine Subventionen erhielt. Suruvkas Bestreben ist es, nicht nur osteuropäische Künstler nach Ostrava zu holen. Auch Österreicher und Deutsche sind willkommen, soferne sie eine Förderung aus ihrem Staat erhalten, da aus Prag nur wenig Geld in die Kulturinstitutionen der 300.000-Einwohner-Stadt fließt. An der Grenze zwischen Mähren und Schlesien ist eben Prag weit und sind Polen und die Slowakei nahe. Nichtsdestotrotz wird im August 2001 ein Fluxus-Festival in Ostrava abgehalten. Sterbende Industriestadt versus aussterbende Kunstrichtung? Dass dem in beiden Fällen nicht ganz so ist, wird nicht nur Stargast Yoko Ono, sofern sie tatsächlich zusagt, spüren.
ÖBB-Okkasionspreis: Wien-Ostrava-Wien öS 584, bei An- und Rückreise wochenends.