Beginnen wir gleich mit dem sechs CDs schweren Ziegel von Miles Davis & John Coltrane »The Complete Columbia Recordings 1955-1961« (Columbia). Davis hatte sich ungleich Coltrane schon in den 40ern bei Charlie Parker als führender Bebop-Trompeter neben Dizzy Gillespie einen Namen gemacht und trat 1955 den bis dahin höchstdotierten Plattenvertrag im Jazz an.
Seine Spielweise hatte sich jedoch längst gewandelt; er läutete die Geburt von Cool ein und stand nun kurz davor in seine »modale Phase« überzutreten. Durch seine Vorliebe für populäre Balladen und einen ausgeprägten Geschäftssinn war ihm die Gunst des Publikums sicher. Mit den supergelackten Arrangements von Gil Evans feierte er neben der Musik seiner kleinen Combos zusätzliche Erfolge. Davis verstand wie kein zweiter, die Machtstrukturen eines großen Labels für sich zu nutzen, was zwar wunderschöne Musik hervorbrachte, aber nicht gerade von einem ungebrochenen Freiheitsgeist zeugt.
Schon der Titel der Box macht klar, dass heute ein ebenso gewichtiges Interesse John Coltrane gilt, der damals ja geradezu völlig unbekannt im Schatten seines Leaders stand. Der ewigen Leier von der Bedeutung der Davis-Gruppen für die Entwicklung John Coltranes kann ich hier auch nicht ganz entfliehen, wenngleich vom musikalischen Spirit her betrachtet seine Zeit bei Monk (1957) ungleich wichtiger gewesen sein dürfte.
Die Box ordnet die Sessions chronologisch, komplementiert durch alternate takes, Ausschnitten aus Studiobesprechungen und zwei an den Schluss gestellte Live-Aufnahmen, die klar machen, dass ein Teil der im Studio erreichten Brillanz auch Verdienst der damals besten Toningenieure war. Davis war ja ganz versessen auf State-Of-The-Art-Equipment (im Gegensatz zu Coltrane, dessen Musik nicht so sehr vom richtigen Verstärker abhing, hatte er sie doch im Herzen.). Ein schwer zu handhabendes eingeheftetes Buch gibt Aufschluss über die einzelnen Sessions und bringt viele Bilder im beliebten Duplex-Druckverfahren. Da alle Albumtitel (»Round About Midnight«, »Milestones«, »Kind Of Blue« und »Someday My Prince Will Come«) separat im Katalog bleiben, kann die Box wohl nur den Geldschweinen und absoluten Fetischisten unter uns empfohlen werden.
John Coltrane Revisited
Der durchschlagende wirtschaftliche Ergfolg der Davis-Gruppe und anderer (vornehmlich weißer) Cool-Jazzer war auch nicht ganz unbeteiligt am Entstehen von Impulse! Records. Mit den Stars der Szene ließ sich nun ganz ordentlich verdienen. Dies erkannten auch die Buchmacher von ABC-Paramount und beauftragten den Produzenten Creed Taylor mit der Konzeption des Labels. Nach einigen Platten mit Ray Charles, Oliver Nelson und Gil Evans verpflichtete Taylor John Coltrane mit einem hochdotierten Vertrag für das Label und verpasste ihm für seine erste Einspielung »Africa/Brass« ein großes Blechbläserensemble und Orchestrierungen von Oliver Nelson. 1962 bekam Bob Thiele – Jazz-Freak und Showbusiness-Veteran – Taylors Job und machte sich unter der vorwiegenden Prämisse, John Coltrane aufzunehmen ans umfangreiche Werk. Statt der vertraglich vorgesehenen zwei Platten pro Jahr nahm Thiele in weiser Voraussicht sechs auf; eine immense Fülle von Material, die bis zum heutigen Tag neu verpackt- und zusammengeschnürt wird. So gibt es jetzt fünf weitere John-Coltrane-CD’s remastered in schicken Digi-Packs mit den jeweils neuen und originalen Liner-Notes.
»Impressions« macht mit Aufnahmen von 1961-63 den chronologischen Beginn. Das Album ist ein nicht ganz geglückter Mix aus Live- und Studioeinspielungen, das für diese Auflage um das schon von der Davis-Gruppe her bekannte Traditional »Dear Old Stockholm« erweitert wurde. »India« und »Impressions« stammen von den epochalen Auftritten im Village Vanguard im November 1961 und sind gegenwärtig auf der erweiterten CD-Ausgabe »Live At The Village Vanguard – The Master Takes« ebenfalls und wohl schlüssiger aufgehoben. Coltrane war hier auf der Höhe seiner »Sheets Of Sound«-Phase, meist notdürftig als Ausbrüche in rasende Sechzehntelpassagen, die wie komplizierte, melodisierte Glissandi wirken, beschrieben. Vom damaligen Jazz-Establishment ernteten diese kreativen Ausbrüche wenig Applaus, dafür wurden Scheuklappen-Termini wie Anti-Jazz (auch auf Ornette Coleman bezogen) eingeführt.
Was lag näher, als diesen Ignoranten einen vor den Latz zu knallen, und so nahm Coltrane – einmalig in seiner gesamten Diskographie – den Vorschlag des Produzenten Thiele an, ein Album (»Ballads«) nur mit populären Balladen zu füllen. Aufnahmen mit dem Sänger Johnny Hartman und mit Duke Ellington verfolgten diese Richtung weiter, zählen trotz aller Schönheit jedoch nicht zu Coltranes aufregendsten Momenten.
»Ascension« ist sicher eine der wichtigsten Platten von John Coltrane. Nach dem großen Erfolg von »A Love Supreme«, und der damit verbundenen erfolgreichen Sprengung der gängigen Formate bei Jazz-LPs und Radiostationen, stand nun die totale Auflösung herkömmlicher Konzepte ins Haus. Coltrane war inzwischen so etwas wie die Vaterfigur der neuen Szene geworden, und verhalf den jüngeren Musikern zu Plattenverträgen (oft bei Impulse!), trat mit ihnen auf oder wurde ihr Arbeitgeber in seinen nun größeren, fluktuierenden Ensembles. »Ascension« ging von der Vorstellung des Leaders völlig weg und präsentiert die Musik einer gleichberechtigten Gruppe, in der jeder ein Solo zum besten gibt, und sonst einer vagen, von Coltrane kurz vor der Einspielung umrissenen Leitlinie folgt. Neben Garrison, Jones und Tyner spielen Archie Shepp und Pharoah Sanders (Tenorsaxophon), Freddie Hubbard und Dewey Johnson (Tompete), Marion Brown und John Tchicai (Altsaxophon) und als zusätzlicher Basser Art Davis.
»Kulu Sè Mama« steht als Album exakt am Scheideweg des Quartetts hin zu größeren Besetzungen und vereint nicht komplett harmonisch diese verschiedenen Herangehensweisen. Die Musik der größeren Ensembles hat Coltrane auch meist selbst produziert; verständlich, da selbst ein noch so integerer Produzent in seiner Musik ein Außenstehender und somit ein Hindernis bleiben musste. Neben dem Titelstück und dem ebenso länglichen »Selflesness«, die entscheidend von dem Vokalisten Juno Lewis mitgetragen werden, ist »Vigil« ein Duett Coltranes mit seinem langjährigen und kongenialen Schlagzeuger Elvin Jones ein Höhepunkt der Platte.
Einen der letzten Auftritte des klassischen Coltrane-Quartetts fängt in Teilen »New Thing At Newport« von John Coltrane/Archie Shepp ein. Im Juli 1965, also einem Monat nach der »Ascension«-Session, kommt noch einmal die unvergleichliche Eloquenz dieses Vierers zum tontechnisch nicht überragend übersetzten Erklingen. Es gibt nur zwei Stücke; Coltranes eigenes »One Down, One Up« und das alte Schlachtross »My Favourite Things«, noch immer Quelle für neue Abenteuer in Sachen Improvisation, in dieser Version tonal unverschämt hoch angesetzt. In Newport ging es zwar nicht um die ?berreichung des Tenoristenpokals, aber die gebotene Musik von Archie Shepp macht seine Anwärterschaft jedenfalls mehr als deutlich. Zu Shepp vielleicht ein anderes mal mehr.
Finales Zuckerl im Reissue-Reigen ist »Interstellar Space«, das erst lange nach seinem Tod erschienene Album aus planetaren Improvisationsduellen Coltranes mit seinem Schlagzeuger Rashied Ali. Grund für die späte Veröffentlichung war schlichtweg das Unverständnis der Leute, die am liebsten immer wieder »My Favourite Things« – wenn möglich wie auf Platte – hören wollten. Coltrane war davon in den letzten zwei Jahren seines Lebens aber denkbar weit entfernt und finanzielle Sicherheit erlaubte es ihm, auf eigene Faust Studiozeit zu buchen und mit wem es ihm gerade beliebte zu Rudy V
anGelder in Hackensack zu Aufnahmen zu fahren. Die Platte zählt in ihrer Kompromisslosigkeit zu den besten Coltranes und übt bis zum heutigen Tag eine gewaltige Faszination auf Musiker und Hörer aus. Nels Cline und Greg Bendian waren ja kürzlich verrückt genug, das gesamte Album nachzuspielen (»Interstellar Space Revisited« auf Atavistic).
Miles Davis – Big Fun?
Ein eigenes Kapitel ist Miles Davis in den 70er Jahren. Manche titulieren sein »elektrisches« Schaffen schlichtweg als nach dem Dollar schielende Idiotenmusik, während andere Hörer ihr Methadonprogramm an den Nagel hängen, um schmerzverzerrt zu dieser ephemeren Klangmalerei wegchillen zu können. Wer Trips rezeptfrei ins Haus braucht, sollte den Weg in den nächsten Supermarkt nicht scheuen und sich die aufgefetteten und restaurierten Epen besorgen.
»Big Fun« liegt jetzt erstmals als Doppel-CD vor und hat vier Bonustracks, die zuvor nur auf der »Complete Bitches Brew«-Box zu finden waren. Mit dem halbstündigen Opener »Great Expactations« räumt Davis gleich mit eventuell von Albumtitel und Covergestaltung erhoffter Leichtfüßigkeit auf. Die Stimmung bleibt wie seine Trompete zugedeckt und die versammelte Fusionprominenz macht sich nicht ans kollektive Abhotten, sondern auf eine Reise in den »Inner Space«. Zu den Elektromutationen der Trompete gibt es Tonnen von E-Pianos, exotische Perkussionsinstrumente, Flöten und sogar eine elektrische Sitar.
Die Klangfarbenkleckserei ist bis auf verknappte Linien weitgehend einer weiterführenden Melodik enthoben und konzentriert sich auf die Möglichkeiten von Mischpult, Echoeffekten und Editionstechniken. Produzent Teo Macero hat das ganze Schlamassel einmal so ausgedrückt: »You had to take what Miles gave you«. Klestil-Buddy Zawinul steuert mit seinen »Recollections« eines der schönsten Stücke bei und ruft in Erinnerung, dass er mal spitze drauf war, bevor er mit Weather Report den guten Geschmack völlig verlegt und nicht wiedergefunden hat. Insgesamt steht »Big Fun« der angeblich bestverkauften Platte im Jazz, »Bitches Brew«, um nichts nach.
Das kann man von der gerne gehypten Scheibe »On The Corner« nicht gerade behaupten. Oft ist hier die Rede von Davis‘ Wunsch, die Musik mehr anzufunken. Sly Stone hält mit seinen Errungenschaften den Referenzpunkt inne, und es kann nur festgestellt werden, dass ein gröberes Missverständnis vorliegt. Sachen, die nicht passen, erstmalig schlichtweg falsch erscheinen, sind ja oft fruchtbarer Boden für musikalische Entwicklungen – hier leider nicht. Ledersessel-Groover, Sitzfurzer und Freunde richtungsloser Jams und zur Schau gestellter instrumentaler Virtuosität sollten zugreifen. Für die Klientel ein Pluspunkt ist das Wegfallen der Notwendigkeit, die Platte umzudrehen.
»Get Up With It«, die letzte Veröffentlichung vor einer mehrjährigen Pause, ist die Summation von Miles Davis‘ 70er-Phase (insgesamt erschienen zehn Doppel-LPs). Zusammengepickt aus verstreuten Sessions von 1970-74 fassen sie die Leistungen dieser Periode zusammen und bringen das mitunter amüsante Novum, Davis an Orgeln und E-Pianos zu hören. Mit seiner Ellbogentechnik und den seltsamen Toneinstellungen erinnert er ein wenig an die gruselige Musik, die Vincent Price alias Dr. Phibes etwa zeitgleich zum besten gegeben hat. ?ber die Qualität dieser Musik und der seiner Mitstreiter Hancock, McLaughlin, Corea, Jarret wird noch lange gestritten werden. Man sollte aber nicht den Fehler machen, Davis vorschnell in die Fusion-Schublade zu stecken, denn seine Musik klingt auch heute noch frisch und interessant und ist wirklich miles away vom extensiven Schrott dieser an sich schlimmen Zeit.
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