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Töne aus Filmen

Rückspiegel-Hören: In den 1930er Jahren ließen einige Experimente für Film und Ton aufhorchen. Erfindungen, die sich mit der Erweiterung des Hörspektrums auseinandersetzten und dafür filmische Basics verwendeten. Transmedial sozusagen in einer Zeit, da Derartiges noch fast als anrüchig galt. Als Hauptdarsteller treten auf: Rudolf Pfennigers praktisch komplett vergessene Serie »Kurzfilme mit künstlichem Ton« (1932f), »Entuziazm - Simfonija Donbassa« (Dziga Vertov; 1931), als Interlude die Welte-Kinoorgel und als Brücke fungiert John Cage. 

Text original in: The Medium Is The Mass. testcard #15. Ventil, April 2006, S. 160--165.

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Heutzutage ist das Aufklappen eines Laptops genauso selbstverständlich wie das Einpluggen einer Gitarre. In Zeiten eines technischen Diktats der Digitalität erscheinen die hier im Weiteren ausgeführten ersten Experimente mit und für synthetischen Ton beinahe als mit der Patina der Geschichte überzogene Spielereien. Daraus lässt sich aber der innovative Charakter dieser Forschungen ansatzweise historisch argumentieren und so manche Geburtswehe der medialen Entwicklung ableiten.

Denn: Die Kontinuitätslinien Luigi Russolo, »Metropolis«, Kraftwerk, (Detroit-)Techno etc. können als bekannt vorausgesetzt werden. Indes wird Dziga Vertov aus der musikalischen Rezeption ziemlich vehement ausgeblendet. Und das, obwohl er — zusammen mit Russolo — wahrscheinlich einer der ersten »bedroom producer« war und so beide gängige Techno-Arbeitsmethoden um etliche Jahrzehnte antizipierten.

Während sich Russolo aber nach wie vor auf das traditionelle Manual der Orgel einließ, experimentierte Vertov bereits während seines Musikstudiums in den späten 1910er Jahren mit elektrischen Apparaturen. Was ihn für einen historischen Techno-Diskurs an sich adäquater machen würde als eben Russolo. Ein weiterer Vergleich zeigt die Diskrepanz: »L’Arte de Rumori« gehört zum Grundinventar jeder halbwegs ernst zu nehmenden Auseinandersetzung über den »Sound of now«; Und wo ist Vertovs »Radioglaz«?

Eben der »Sound of now«. Aus den vielen Einflüssen, die diesen kartografieren, seien hier exemplarisch drei herausgefiltert. Wichtig war dabei eine Art transmedialer Ansatz, sprich ein audiovisuelles Setting, in dem Film benutzt wurde, um Ton zu generieren. »Restbestände« aus dem akustischen Spektrum werden zum Musikmachen via Bild verwendet; Eine frühe Form einer »Musik der Unbefugten« (um diesen Ausdruck von Carla Murek zu zitieren, den sie für die frühe Industrial-Musik von Fluxus und Aktionisten ableitete[i]).

Vertov wollte »Entuziazm« dezidiert als musikalischen Film verstanden wissen, was allein schon der Untertitel »Donbas-Symphonie« klarstellt: Von der hochgerüstet-vertrackten Bild-/Tonmontage gar nicht erst zu reden. Deleuze hatte schon seine Gründe, warum er diesen Film heranzieht, wenn er sich im »Bewegungs-Bild« über das Intervall auslässt. Hier werden »Sound-Polaroids« verhandelt, ein Verfahren, das später im Film als »Found Footage« daherkommen sollte.

Das heißt für die Sounds, dass sie aus einer fixierten raumzeitlichen Situation stammen, also »originär« sind. Echt Allgemeinplatz, der zwar in eine richtige, indes filminhärente Richtung führt, wenn Charlie Chaplin über den Film urteilte: »Never had I known that these mechanical sounds could be arranged to sound so beautiful. I regard it as one of the most exhilarating symphonies I have heard. Mr. Dziga Vertov is a musician.«

Dabei liefert dieses Statement die »Legitimation«, die in Sounds umgearbeiteten, aus dem »Radioglaz« destillierten Vertov’schen »Lebensfakten« zwischen dem Gestern (symphony) und dem Status Quo (mechanical sounds) für das akustische Morgen (arrangement) bereit zu stellen. Vertov holte sich seine Montage-Ideen u. a. beim russischen Dramatiker Vladimir Mayakovsky. Die russische Film- und Theatertheoretikerin Vlada Petric konstatiert: »[…] the staccato pace of its deconstructed lines, a principle Vertov often uses in the climactic portions of his films, by »scattering« the segments of the same shot throughout the sequence.«[ii]

Was dabei anklingt, zieht sich als roter Faden durch diesen Text: Die Etablierung eines Mensch-Maschine-Interfaces, das in der technikenthusiastischen Zwischenkriegszeit in unterschiedlichsten Segmenten und Medien eine musikästhetische und sozioökonomische Aktualisierung zeitigte.

Vertovs Postulat kann symptomatisch gelten: »Wir bekräftigen die Zukunft der Filmkunst durch die Ablehnung ihrer Gegenwart!«[iii] Der Maschinenkult, der in Vertovs Manifest anklingt, erweis sich als einer der treibenden Kräfte künstlerischer Auseinandersetzung in dieser Zeit: »One of the most remarkable experiments to emerge from the Russian Revolution […] was the cult of the machine. […] the prophets of this cult, anguished by the backwardness of Russian work styles in the factory, and inspired by the industrial geniuses, Frederick W. Taylor and Henry Ford, dreamed of remolding the human psyche and remodelling human society along the lines of machine and workshop«[iv]

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Die Maschine ist in der Lage, eine Reihe neuer Eindrücke zu erzeugen und die Industrialisierung als akustische Aneignung von Welt erfahrbar zu machen: In der Begeisterung für den Futurismus wurden 1919 in Petrograd eine »Revolutionssinfonie« und am 7. November 1922 in Baku eine »proletarische« Sinfonie aufgeführt, an denen die gesamte Stadtbevölkerung teilnahm. Nach einem vorher erstellten Plan wurden Maschinengewehr-Salven abgefeuert, Signalhörner und -sirenen betätigt, es erklangen Dampfer- und Lokomotiven-pfeifen, Kirchenglocken läuteten. Eine ganze Stadt präsentierte ihren industriellen »Gebrauchslärm«.

 

Interlude: Die Welte-Kinoorgel

Welte_Kinoorgel.jpgDemgegenüber war die Welte-Orgel eben als Kinoorgel verwendet worden und Rudolf Pfenningers Filme gaben sich mit dem Nachspielen zufrieden. Was aber als Verbindungselement durchgeht, ist: Der »sound of now« filtert die »Restbestände« aus dem akustischen Spektrum, lässt Lesarten gegen die Waschzettel-Anleitung zu, bürstet sie gegen den Strich. Die seit Anfang des 20. Jahrhunderts von der deutschen Firma Welte gebaute Orgel war praktisch ausschließlich zur akustischen Untermalung von Filmen konstruiert worden. Die Welte-Orgel hatte den weitverbreiteten amerikanischen Kinoorglen voraus, dass sie allerlei Geräusche wie Hufegeklapper, Pfeifen, Rauschen, Sirenen oder sonstigen (filmischen) »Gebrauchslärm« per mechanischer Manuale von sich geben konnte.

Man kann die Welte-Orgel als eine Art verschollenes Bindeglied zwischen Russolos Intonarumori und dem Mixtur-Trautonium sehen. Dafür brauchte es begabte Organisten wie Gerhard Gregor. Schon am Beginn seiner musikalischen Karriere in den 1920er Jahren stieß er auf die Welte-Orgel und wurde einer der großen Virtuosen auf ihr. — Was Oscar Sala für das Mixtur-Trautonium leisten sollte, fand in Gregor seine Entsprechung für diese Film-Orgel. — Während sich Russolo noch abgemüht hatte, mit seiner Musik in Fachkreisen Aufmerksamkeit zu bekommen, spielten sich fast dieselben Sounds gut fünfzehn Jahre später in Kinos ab, wo sie indes zur akustischen Illustrierung verwendet wurden, also von Anfang an einem »Pop«-Zugang wesentlich näher standen.

Eine Welte-Orgel liefert neben einem Mixtur-Trautonium den von Paul Dessau verfassten Soundtrack zu »Stürme über dem Montblanc« (1930). In Arnolds Fancks erstem Tonfilm findet Kommunikation hauptsächlich über Schallwellen und Telegrafen — also damalige Hochtechnologie — statt. Die Welte-Orgel kam indes nie in den Genuss, sich dem Primat des Bildes gegenüber zu emanzipieren. Sie wurde immer nur als »Abbild« verwendet.

 

 

»Töne aus dem Nichts«

Rudolf Pfennigers fünfteilige Dokumentarfilm-Serie »Tönende Handschrift« um 1932 verhandelte ebenso »irrtümlich« wie bei der Welte-Orgel eine Brechung des Bild-Primats zugunsten von Musik. Der Münchner Trickfilmzeichner Pfenninger schuf mit diesen »Kurzfilmen für gezeichneten Ton« eine Arbeitsweise, in der Resonanzschwingungen auf lange Papierstreifen übertragen, mit Tusche nachgezeichnet, abgefilmt und auf Lichttonfilm umkopiert wurden. Auf diesen Papiersteifen wurden einzelne Töne, aber auch ganze Melodiesegmente festgehalten. Immerhin konnte man so, wie es in der damaligen Projektbeschreibung stolz heißt, »Töne aus dem Nichts« entstehen lassen.

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Leider begnügte sich Pfenninger damit, Händels »Largo« und ähnliche Stücke nachzustellen. Diese auf Lichttonfilmrollen hergestellten Musikstücke waren dafür wahrscheinlich auch zu umständlich gewesen. Einer weiteren Auseinandersetzung kam außerdem entgegen, dass Pfenningers Experimente von breiten Teilen der »Kennerschaft« nicht als eben musikalische Innovation angesehen, sondern als »Trickfilm-Spielereien« diffamiert wurden. Vergleichbar wären diese Studien noch am ehesten mit dem russischen Trickfilm »Wor« (1934) mit synthetischem Sound von Nikolai Woinow.

Dagegen waren den audiovisuellen Experimenten von Oskar Fischinger (»Ornament Sound«; 1932) und von László Moholy-Nagy mehr Erfolg beschieden. Pfenninger versuchte, bei einem »Fachpublikum« zu punkten und scheiterte darin wesentlich vollständiger als Russolo. Ein Trickfilmer, der Händel nachspielt? Noch dazu per Film? Man übersah, dass sich darin eine Arbeitsmethode abzeichnete, die als eine der ersten das seit byzantinischer Zeit nicht wesentlich veränderte Orgel-Manual über Bord warf und überhaupt die Verbindung zwischen Produktionsort und Rezeptionsmedium von einander kappte. Pfenninger ging nicht so weit, mit seinem Verfahren auch zu komponieren.

Stellt aber diese Arbeitsweise nicht einen radikaleren produktionsästhetischen und performativen Bruch dar als Musik bis herauf zur 12-Ton-Musik und knüpft diese nicht gar an die Tonband-Musik/Musique Concrète an? Auch wenn man auf der Tonspur die Schwingungswellen ausmachen konnte, so konnte die Bildspur prinzipiell komplett leergeräumt sein. Bei allem Namenspathos: Diese »Töne aus dem Nichts« weisen genau auf jenes Lacan’sche »Nichts« hin, aus dem sich die eigentlichen Innovationen speisen.

 

Bridge: »Williams Mix« (1952) von John Cage

»»Williams Mix« war eine Collage aus herausgeschnittenen Tonbandfetzen aus einer umfänglichen Bibliothek von Quellenmaterial. »Länge und genaue Spezifizierungen wurden sorgfältig im Maßstab 1:1 auf Millimeterpapier eingetragen«, schreibt David Rivell in seiner Cage-Biografie »Tosende Stille«. […] Bebe Baron[v], die an der Arbeit an »Williams Mix« beteiligt war, beschrieb den Prozess der Entstehung: »Tonbandaufnahmen wurden in acht Rubriken kategorisiert: Naturgeräusche, ländliche Geräusche, Stadtgeräusche, elektronische Geräusche, Stimmen, leise Geräusche usw. Danach verbrachten wir unermesslich viel Zeit damit, dies Aufnahmen in winzig kleine Stücke von verschiedener Form, wie Dreiecke, zu zerschneiden. Ich glaube nicht, dass jemals irgendwer alles herausgehört hat, was in diese Arbeit eingeflossen ist, aber John wusste, dass es da ist.«[vi]

 

 

Mit elliptischen Bildern zum Techno-Bewusstsein

1929 hatte Vertov den Tonfilm für sich entdeckt. Seinen Arbeiten waren etwa »Ballett Mechanique« von Ferdinand Léger und »Ent’racte« von René Clair[vii] (beide 1924) und diverse audiovisuelle Experimental- und Avantgardefilme von Jean Epstein, Hans Richter und Viking Eggeling vorausgegangen. Als Folge seines Musikstudiums hatte sich Vertov bereits 1916 in St. Petersburg ein Tonstudio eingerichtet, in dem er Tonexperimente zu den Bildmontagen anfertigte. Diese waren mangels technischer Möglichkeit rudimentär. 1929 jedoch stellten die Konstrukteure P. G. Prager und A. F. Shorin die erste sowjetische Tonanlage vor. Sie ermöglichte es, die Kamera mit dem Tonaufzeichnungssystem zu verbinden. Diese Neuerung nutze Vertov für »Entuziazm« und entwickelte analog zum Kino-Auge (»Kinoglaz«) das Radio-Ohr (»Radioglaz«).

Zusammen mit seiner Cutterin und späteren Frau Svilova arbeitete er mit einer Montage, die Petric »higher mathematics of facts«[viii] nennt. Auf diese Weise mündeten die gefilmten »Lebensfakten« in Töne, geordnet nach mathematischen und abstrakt-assoziativen Kriterien. »Entuziazm« ist ein Film, dessen bildhafter Rhythmus von den auf der Tonspur befindlichen Geräuschen, Klängen und Tönen geleitet ist: Soundscapes kartografieren das Bild.

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Free-Cinema-Gründer und Filmtheoretiker Karel Reisz unterscheidet zwischen [a] »synchronem« und [b] »asynchronem« Ton: Während [a] seine Quelle im Bild hat, kommt [b] von außerhalb des Bildes. Diese Unterscheidung ist für »Entuziazm« insofern wichtig, als hier penibel darauf geachtet wurde, den im Bild befindlichen Rhythmus von Maschinen, Einrichtungen und Menschen mit den vor Ort gemachten Tonaufzeichnungen zu synchronisieren. Vertovs »Entuziazm« ist filmisch am ehesten vergleichbar mit »Berlin: Sinfonie der Großstadt« (1927) von Walther Ruttmann und Abram Rooms »Der Plan für Große Arbeit« [»Plan velikikh rabot«; 1930]. Darüber hinaus finden sich durch Oberflächenmanipulation hergestellte »gefundene Geräusche« (»objects trouvées«) bei Komponisten wie Edgar Varèse, Paul Hindemith, Erik Satie, Darius Milhaud und dem am Bauhaus tätigen Moholy-Nagy.[ix]

Bei »Entuziazm« spielen die repetitiv organisierten auditiven Signale der Maschinen eine gewichtige Rolle. Die hervorragende Qualität der auditiven Signale sind ihre lokale und geografische Determiniertheit und die Fähigkeit, Raum und Zeit aufzubauen und erfahrbar zu machen. Die in Geräusche/Töne umgewandelten Abbilder der industrialisierten Wirklichkeit bedingen für die Bildkomposition einen mechanischen, maschinengeleiteten Rhythmus, dessen Grundparameter Repetition und Flächigkeit sind. Besonders bei elliptischen Bewegungen schielen immer wieder Abläufe durch, die sich bestens mit dem Loop-Denken im Techno und anderen aktuellen Musiken vers
tehen. Und schließlich sind einige Passagen akustisch so zusammenmontiert, dass aus Sirenen, Signalhörnen, Kärnen, Förderbändern etc. heftige Noise-Flächen entstehen.

 

Vertovs Intentionen waren klar: Mit Bildinhalten von Maschinen konnte man am wirksamsten gegen die »psychologischen« Filme vorgehen. Sie bildeten die Antithese zu den romantisch-narrativen Stoffen. Der formale Realismus eines Vertov (aber auch von Jean Vigo oder John Grierson) vermischte sich aufgrund der massiven Erdung in mathematisch-präzisen Montagen oft mit einer künstlichen Mythologisierung und gar Fetischisierung von Technik. Das ist insofern stringent, da er bei vielen seiner Dokumentationen musikalische Prinzipien wie Intervall, Rhythmus und Kontrapunkt verwendete. »Zum ersten Mal in der Geschichte wurden auf dokumentarische Weise die beherrschenden Geräusche eines Industriegebiets (das Geräusch von Bergwerken, Fabriken, Zügen etc.) aufgenommen.«[x]

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Unbestritten war die vertrackte und ineinander verzahnte, in Ton und Bild übertragene Poesie auf einem Level angesiedelt, das mit unterschwelligen Montage-Effekten arbeitete (Phi-Effekt[xi], Dramatisierung, Akzeleration) und so die Wahrnehmung des Lebens auf die Materie in Form von audiovisuellen Lebensfakten verändern sollte. Vertov gab sich sozusagen mit seinen Cut-Ups damit zufrieden, dem Jetzt habhaft zu werden. Hier gab es eine »Atmosphäre des Lärms und des Krachs, zwischen Feuer und Eisen, in Fabrikhallen, die von Schall vibrieren.«[xii] Während im »Mann mit der Kamera« (1929) die Strukturierung des Films von Innen kommt, wird sie in »Entuziazm« – einer Klammer gleich – von dem Außen, also dem Äther in Form einer Radiostimme und den dokumentarischen Erklärungen, zusammengehalten. Der akusmatische Erzähler findet seine bildhafte Entsprechung in den technischen Geräten wie Radio, Lautsprecher oder Megafon.

 

Effektive Sounds

»Die Originalität der Vertov’schen Intervalltheorie liegt [in der] Herstellung einer Wechselbeziehung zwischen zwei weit auseinanderliegenden, aus der Perspektive der menschlichen Wahrnehmung inkommensurablen Bilder.«[xiii] Daraus entwickeln sich suggestive Zusammenhänge, die durch nicht-lineare und nicht-narrative Strukturen verstärkt werden. Der Effekt mündet in einer perzeptiven Montage, die ganze Generationen von Experimentalfilmern beeinflusste.

Das mechanische Credo lautete »Sehen ohne Grenzen und Entfernungen«. Das »Materieauge« (Deleuze) ist in der Lage, sowohl die technischen Produktionsbedingungen der veränderten Wirklichkeit sowie die vierte Dimension, die Zeit, in sich aufzunehmen. Vertov setzte nicht auf »Schockeffekte«, wie sie sich seiner Meinung nach durch Kunstgriffe wie Gags und übertriebene Affektäußerungen zeigen, weil er darin ein Näheverhältnis zum amerikanisch-kapitalistischen Kino à la D. W. Griffith sah.

Sowohl von Sergej Eisenstein wie dem Filmkritiker Ippolit Sokolov wurden Vertovs Tonkonzepte abgelehnt. Während Eisenstein die Kompatibilität von Bild und Ton für den Film ablehnte, sprach Sokolov 1929 gar von einer »Theorie der Katzenmusik«[xiv]. Sieht man jedoch Gebrauchsgeräusche nicht bloß als »Restgeräusche«, ergeben sich für die Musikhistorie weitreichende Konsequenzen. Vertov zeigt mit »Entuziazm« die »Negation der [Sokolov’schen] Negation«[xv] auf: Er macht deutlich, dass sich die Verkettung akustischer Eindrücke nicht nur als Musik sondern auch als zukunftsweisend – siehe Techno und besonders Electronica – herausstellen kann.

Die audiovisuell gestaltete Selbstreflexion steht in Zusammenhang mit der Bewusstmachung der umgebenden Artefakte, also des Ambiente, in dem der Musik ein funktionaler Charakter eingeräumt wird. Dieser Funktionalismus ist auch bei Eric Saties »Musique d’ameublement« zu finden, der für sein 1917 aufgeführtes Stück »Parade« Schreibmaschinen, Pistolenschüsse, Dampfsirenen und -pfeifen zusammen mit üblichen Instrumenten auf die Partitur brachte.

Der Unterschied zur Geräusch-Konzeption von Russolo oder Satie liegt darin, dass es sich bei »Entuziazm« eben um Fieldrecordings handelt. Sie folgen zwar sinfonischen Darstellungen, deuten aber auf eine konkrete Situation, eine bestimmte, eine genuine Location hin. Diese akustischen »Fotografien« sind authentisch, konkret und zugleich abstrakt. In der auditiven Wahrnehmung werden die konkreten Audiophänomene in einem organisatorischen Umkehrschluss derart miteinander verkettet, dass daraus eine dynamische Abstraktion resultiert. Somit ist der Schritt zu einer neuen Musik vollzogen.


[i] Carla Mureck: »Die Hölle ist da, feiern wir das wärmende Feuer. Zur Musik der Industrial Culture, Destroyed Music und Geräuschmusik«. In: Andrea Hoffmann/Kim Riemann [Hg.]: Partitur der Träume. Konkursbuchverlag, Nr. 25, 1990.
[ii] Vlada Petric: Constructivism in Film. Cambridge University Press, 1993, S. 28f. Ein Naheverhältnis zu onomatopoetischen Gedichten von Dada bis Ernst Jandl ist hier genauso fundamental wie die Cut-Up-Theorien von Brion Gysin und William S. Burroughs.
[iii] Dziga Vertov: »Wir. Variante eines Manifests«. 1922. In: Eva Hohenberger [Hg.]: Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms. Vorwerk8, 1998, S. 71.
[iv] Richard Stites: Russian Popular Culture: Entertainment and Society since 1900. Cambridge Soviet Paperbacks, 1992, S. 170.
[v] Bebe Baron zeichnete zusammen mit ihrem Mann Louis u. a. für den legendären Soundtrack zu »Forbidden Planet« (1956) verantwortlich.
[vi] Zit. aus: David Toop: »Musik im virtuellen Raum«. In: Kunstverein Medienturm [Hg.]: Techno-Visionen. Neue Sounds, neue Bildräume. Folio, 2005, S. 68.
[vii] Es ist nicht gesichert, ob Vertov diese Filme kannte.
[viii] Petric, S. 135.
[ix] Vgl. Chris Cutler: »Plunderphonics«. In: Simon Emmerson [Ed.]: Music, Electronic Media and Culture. Ashgate, 2000, S. 95.
[x] Dziga Vertov: »Kino-Eye«. In: Annette Michelson [Ed.]: The Writings of Dziga Vertov. Berkeley, 1984, S. 109.
[xi] Der etwa bei Chris & Cosey ganz unverblümt als »subliminal effects« daher kommt.
[xii] Besprechung des ersten Tonfilms von Ukrainfilm: »Symphony of the Donbas«. Dziga Vertov: Kino-Eye. The Writings of D.V., S. 109. Zit. nach: Douglas Kahn: Noise, Water, Meat. A History of Sound in the Arts. MIT Press, 1999, S. 41.
[xiii] Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Suhrkamp, ²1998, S. 117.
[xiv] Vgl. Kahn, S. 40f.
[xv] Vgl. Ian Christie: »Making Sense in Early Soviet Sound«. In: Richard Taylor/Ian Christie, [Ed.]: Inside the Film Factory. New Approaches to Russian and Soviet Cinema. Routledge, 1991, S. 184.

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Im Oktober 2005 wurde »Entuziazm« in der originalen und in der von Vertov-Experten Peter Kubelka restaurierten und kommentierten Fassung als Doppel-DVD wiederveröffentlicht. Zu beziehen über Filmmuseum Wien.  

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Text
Heinrich Deisl

Veröffentlichung
24.01.2007

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