Der 28.10. war ein guter Abend in Wien. Man hätte z. B. zur Viennale gehen können, um sich den umjubelten »Faust« von Alexander Sokurov anzuschauen. Oder den neuesten Film von Nanni Moretti, »Habemus Papam«. Außerdem gab es noch ein Dutzend anderer Filme, für die man sich ebenfalls entscheiden hätte können. Aber warum überhaupt die Viennale? Man hätte auch zur Eröffnung von Wien Modern gehen können, um sich die dritte Komplettaufführung von Friedrich Cerhas »Spiegel« anzusehen und anzuhören. Allerdings, so bedeutend Cerhas Opus Magnum auch ist, es war eben keine Uraufführung. Sicherlich eine fragwürdige Entscheidung, eines der weltweit wichtigsten Festivals für Moderne Musik mit einer Aufführung zu beginnen, die eher im Zeichen einer Würdigung steht, denn zukunftsweisend ist. Aber warum sollten nicht auch die Kuratoren von Wien Modern vor der Qual der Wahl stehen? Zumal das Motto des Festivals ja ebenfalls eine Wahl zum Thema hat: Üsterreich oder Großbritannien, das sei die Frage. Oder personenbezogen ausgedrückt: Friedrich Cerha oder Harrison Birtwhistle? Doppelt seltsam darum, dass man nur Cerha bei der Eröffnung zu hören bekam ?? und eben keinen Birtwhistle.
Die angereisten Ü1-Clubmitglieder und sonstigen Höchstkulturaspiranten bekamen vom Dirigenten Cornelius Meister und dem ORF-Radiosymphonieorchester jedenfalls eine mustergültige Einspielung zu hören, die allerdings den vorangegangenen zwei Einspielungen (eine durch Cerha selbst) wenig hinzufügen konnte (aber auch nicht musste). Zumindest ließ sich das bis nach einer halben Stunde sagen, denn danach stand ich erneut vor der Qual der Wahl. Und entschied mich dafür, noch eine weitere Station an diesem Abend anzusteuern. Das Porgy & Bess nämlich, wo ich mich auf das Steve Swallow Quintett freute. Und zwar vor allem, weil Carla Bley Teil dieses Quintetts ist – ihres Zeichens eine herrlich verrückte Komponistin, Arrangeurin und Bigbandleaderin aus der Ära des Post-Fusionjazz. So hoffnungsvoll mich das stimmte, es war an diesem Abend die unvorteilhafteste Option. Denn das Steve Swallow Quintett gab sich ein eher beschauliches Stelldichein, bei dem auf höchsten virtuosen Niveau ein musikalisch eher risikoloses Terrain betreten wurde. Die gute Frau Bley etwa spielte auf ihrer Hammondorgel die halbe Zeit nur mit der rechten Hand. Saxophonist Chris Cheek und Gitarrist Steve Cardenas entspannten sich mit Improvisationen aus dem großen Standardrepertoire des Jazz. Und Bassist Steve Swallow (ein sehr netter Herr, der übrigens wie ein ergrauter Toni Innauer aussieht) pflanzte auch nicht gerade ein musikalisches Apfelbäumchen. Tatsächlich servierte man dem Auditorium ziemlich ungeniert sogar noch Blues in seiner simpelsten und uninspiriertesten Form. Das ergab insgesamt einen netten, entspannten Abend, der perfekt ins Altersheim für Jazzpensionäre gepasst hätte … ach, ich hätte mir doch den Nanni Moretti ansehen sollen. Oder wenigstens bei Friedrich Cerha bleiben sollen. Tjaha ??