Erstens, die Kammer
Die erste Einstellung in »Paradies: Glaube« zeigt ein kleines Zimmer, eine Kammer. Die Jalousien sind herunter gelassen, es herrscht gedämpftes Licht. Gleich wird die Hauptdarstellerin kommen und sich vor dem Kruzifix an der Wand geißeln. Später, im Verlauf des Films, wird sie sich hierher zurückziehen, wird dieser Raum ihr Refugium. Der einzige Ort, an dem ihr fanatisch verkehrtes System, ihr Lebensirrtum noch funktioniert. Darum geht es in »Paradies: Glaube«. Was oft (etwa von Wolfgang Lorenz bei der Premierenfeier) als »genaues Menschenschauen« bezeichnet wird, hinein in Welten, die wir oft nicht einmal wahrhaben wollen, das könnte man umgekehrt als zwanghafte Fiktion bezeichnen, als Radikalisierung. Es geht um die Frage: Was passiert, wenn eine bestimmte Art die Wirklichkeit zu reduzieren ins Extrem getrieben wird – bis sie nicht mehr kompatibel ist mit dem, was sie ursprünglich vereinfachen sollte. Das Gute und das Böse, das Verwerfliche und das Reine. Es geht gar nicht so sehr um das Thema Religion. Eine Sammlerleidenschaft, eine philosophische Anschauung, das Weltbild eines Unternehmers könnten ähnliches leisten, bloß bieten diese Systeme meist keine Heilsvision, schon gar keine komplette Metaphysik an. Und natürlich hat der Katholizismus neben einer langen Tradition auch eine breite Community. In gleichgesinnten Biotopen lässt sich eine handfeste Verkennung der Wirklichkeit viel besser heranzüchten. Allerdings gibt es dort ebenso Interaktion – und damit Prüfungen, Infragestellungen, Realitätszuschnitzungen. Aber dieser Aspekt interessiert Seidl weniger, die Betgemeinschaft im Film, die inbrünstig auf ein Wiedererstarken des Katholizismus in Ûsterreich hofft, hat nur illustrativen Zweck. Es geht in »Paradies: Glaube« weniger um den Glauben, um den Katholizismus, es geht um die geschlossene Kammer Mensch.
Zweitens, die Konstruktion
So ein hermetisches Verschließen vor der Wirklichkeit klappt nicht, die Wirklichkeit verhält sich nicht so. Wir wissen das, wir sind ja weltoffen, flexibel, dynamisch. Hoffen wir halt. Auch darum beschleicht uns Beklemmung, wenn wir die Seidl-FilmheldInnen betrachten. Wir sehen ihnen zu wie sie scheitern, wie sie sich durch ihr Beharren tiefer in einen menschlichen Morast hinunterlassen, der letztendlich eben doch allzu menschlich ist. Zumindest versichern uns das die Seidl-Apologeten. Wir sind nicht ganz überzeugt, aber das gehört zum Kino von Ulrich Seidl dazu, diese Beklemmung beim berschreiten von Grenzen. Ständig die Frage: Wurde hier nicht erneut jemand der Lächerlichkeit preisgegeben, wurde hier nicht »das Menschliche« herabgewürdigt, beschmutzt, befleckt. Aber sobald wir das denken, fühlen wir uns päpstlicher als das Papst, bieder bis in die Knochen. Und so bieder wollen wir nicht sein. Darum scherzen wir beim Verlassen des Kinos selbstgewiss: »Hätte Seidl so einen Film im Kontext des Islam gemacht, dann bräuchte er jetzt mehr als einen Bodyguard.« Bei uns aber nicht, denn wir sind ja tolerant und reflexiv. Eben darum schämen wir uns für und mit den Seidl-ProtagonistInnen, versuchen ständig uns abzugrenzen. Nicht zuletzt fürchten wir, auch in uns so einen Hang zur Kammer zu finden. Wer hätte die Dinge nicht gerne so einfach wie möglich? Und haben wir nicht ebenso feine Reduktionen gefunden? Anstelle von Katholizisten sind wir Hedonisten, Pragmatiker, Ich-AGs. Funktionell dieselbe Sache, bloß zeitgemäßer.
Dass wir uns diese Skrupel und diese Fremdscham durch den Kopf gehen lassen, ist Teil der Seidl-Manipulation, die in »Paradies: Glaube« deutlich wie kaum zuvor wird. Das Weltreduktionssystem der Protagonistin wird radikal ins Wanken gebracht als ihr Ehemann nach zwei Jahren Abwesenheit zurückkehrt. Er ist Ägypter und Moslem – und überdies querschnittgelähmt. Was für ein Schachzug, was für eine Konstruktion! Es ist der Moslem, der in »Paradies: Glaube« das Prinzip der Vernunft, der Weltoffenheit vertritt. Der den Unfug und die Verlogenheit des Radikalkatholizismus seiner Ehefrau anprangert. Und weil er querschnittgelähmt ist, kann er das nicht im Modus eines patriarchalisch-gewalttätigen Stereotyps tun, sondern nur als Opfer. Wenn am Ende die Gewalt doch eskaliert, ist sie Ausdruck einer Verzweiflung, einer Ohnmacht.
Diese Konstruktion enthüllt das Manipulative des Films, das Manipulative des Filmemachers Seidl. Umgekehrt: ohne diese Konstruktion wäre der Film nichts weiter als ein peinliches Außenseiterportrait, eine Milieustudie ohne Mehrwert, die den Zuschauer endgültig der Frage überlassen würde: Warum soll ich mir das anschauen? Warum soll ich mich so hinunterziehen lassen? Dann doch lieber Billy Elliot und blank geputzte Betroffenheit.
Drittens, der Fun
Aber es ist nicht alles bloß Kammer und Konstruktion. Es steckt ein enormer Witz in »Paradies: Glaube«, bezeichnender Weise vor allem in den Missionierungsszenen, den meist vergeblichen Versuchen der Protagonistin, andere Menschen durch Hausbesuche zum Glauben zu überreden – mit einer authentischen »Wandermuttergottes« in Händen. Natürlich erfahren diese Begegnungen ebenso eine Radikalisierung im Laufe des Films. Aber jene Sequenz, wo Anna Maria auf den »Privatgelehrten, Playboy, Nudisten und Roulettespezialisten« Rene Rupnik trifft, dem Seidl schon einmal einen ganzen Film gewidmet hat, gehört zu witzigsten, was man in letzter Zeit in Kino sehen durfte. Die Komik entsteht im Aufbrechen des zuvor entworfenen Systems. Der Versuch, Rupnik zu einem Hinknien in Gnade zu überreden, wird durch das kauzige Herumlavieren über die Schmerzhaftigkeit einer simplen Körperbewegung ins befreiend Lächerliche gezogen.
Aber der Schalk steckt natürlich in der gesamten Anlage des Films. Die gezeigte »menschelnde« Hässlichkeit ist stets tragikomisch, etwa dadurch, dass die Protagonistin ihre Mitmenschen im Grunde entmündigend, wie Haustiere behandelt (das Haustier wird dementsprechend noch ein Spur herzloser behandelt). Selbst die vielfach zitierte Masturbationsszene ist weniger blasphemisch als überraschend intim und eben auch lachhaft, weil diese extreme Zuspitzung, diese körperlich-gewordene Liebe Jesu fast nur als Witz wahrgenommen werden kann. Allerdings: als Komödie umgesetzt würde darüber wohl kaum jemand lachen. Der »Fun«, den man mit »Paradies: Glaube« auch haben kann, radikalisiert wiederum die Gewissensfrage. Lacht man hier mit der Menschlichkeit oder über die Menschlichkeit. Diese Frage bitte im Selbstversuch beantworten. Oder gar nicht erst ernst nehmen.
Viertens, der Film
Abschließend die filmische Würdigung. »Paradies: Glaube« ist natürlich ein Meisterstück, wenn auch ein zutiefst österreichisches Meisterstück. Die Inszenierung ist typisch spröde, zugleich makellos (großartige Kameraarbeit selbstverständlich) und in jeder Sequenz bis ins Detail durchdacht. Die meiste Dynamik kommt durch die Performance, vor allem in den Missionierungsszenen. Die Protagonisten wurden nur teilweise in den Drehplan eingeweiht, die entsprechende Echtheit der Reaktionen ist in der Unberechenbarkeit so mancher Szene spürbar. Sicher spannend wäre es, auch jene Szenen und Begegnungen zu sehen, die nicht wie gewünscht verlaufen sind. Da die Paradies-Trilogie ursprünglich als ein Film geplant war, sind übrigens auch ehemals verbindende Elemente zwischen den drei Geschichten gekappt worden. Last but not least uneingeschränkte Verbeugung vor den Hauptdarstellern: Maria Hofstätter, aber ebenso Laiendarsteller Nabil Saleh, dem verzweifelt guten Geist des Filmes. Der Lorbeerkranz absoluter Authentizität sei hiermit verliehen.
»Paradies: Glaube« ist ab 11. Jänner im Kino zu sehen