Als ich vor einigen Jahren einen alten Bekannten aus Guadeloupe fragte, wie denn seine Heimat so sei, weil ich mir gelegentlich überlegte, auch dieses karibische Eiland einmal zu besuchen, sagte der: »Ach weißt du, es ist halt eine typische karibische Insel, die Landschaft ist auf allen Karibikinseln ziemlich ähnlich, das Essen auch, das Wetter zumeist mild wie die Menschen, die im Ûbrigen sehr entspannt sind.«
Mit einem Wort: ein Touristenparadies. Wirklich? Man kennt die Karibik allerdings auch anders. Zum Beispiel sehr gewalttätig. »In welchem anderen Land der Welt gibt es eine Provinz, die Matanzas heißt, was Gemetzel bedeutet?«, frägt der ehemalige kubanische Revolutionär und spätere politische Exilant Guillermo Cabrera Infante zu Anfang seines Buchs »Ansicht der Tropen im Morgengrauen «, das ein schonungsloser Parforceritt durch die gewalttätige Geschichte der Karibik, insbesondere Kubas, von der Vernichtung der indigenen Bevölkerung bis zu den Kerkern des Castro-Regimes, gegen das er sich schließlich gewandt hatte, in den Siebzigern ist.
Despoten und Touristen
Matanzas, Hauptstadt und Hafenstadt der gleichnamigen Provinz Kubas, war übrigens einer der wichtigsten Umschlagplätze für Sklaven, Zuckerrohr, Tabak und Kaffee, womit gleich einige der wesentlichsten Stichworte zu Kolonialismus und Imperialismus gefallen wären. Die anderen wären da: United Fruit Company und bittere Armut, Mafia, Casinos und Prostitution, Tourismus und Despoten von skrupellosem Zuschnitt, die die Politik mit eiserner Hand im Sinne des großen Bruders im Norden lenkten. Und so wird es kein Zufall sein, dass Kuba im Jänner 1959 mit der siegreichen Revolution gegen Amerika und seine Mafia-Banden (Fotos der Unterweltgrößen jener Tage fehlen allerdings in diesem Band) den Reigen großformatiger Bilder eröffnet, mit denen mehr als nur Blitzlichter der Fotokunst auf gut hundert Jahre Karibik geworfen werden. Und das revolutionäre Kuba, jener traumatische Schlag ins Gesicht des US- Imperialismus, liefert in regelmäßigen Abständen weitere Bilder in diesem Fotoband, der als Ganzes genommen ein historisches Kompendium der Region der letzten hundert Jahre darstellt, wenn manche Inseln, wie Jamaica, Trinidad, Haiti oder Kuba, auch mehr Beachtung finden als andere, wie St. Lucia oder Antigua.
Hunderte zumeist großformatige Fotos, schwarzweiß und farbig, alle von hoher Kunstfertigkeit, ergeben ein sozialgeschichtliches Panoptikum der karibischen Gesellschaft, und man entdeckt ständig neue Details in diesen Bildern. Sie fokussieren einerseits naturgemäß immer wieder auf die Folgen der skrupellosen Ausbeutung der afrikanischen Sklaven und indischen »Arbeitsverpflichteten « auf den Antillen: Bilder von Menschen bei schwerster körperlicher Arbeit oder vor ihren schmutzigen Baracken, Bilder von mörderischen Diktatoren (auf einem davon Francois »Papa Doc« Duvalier mit Haile Selassie, der wohl noch unter dem Schockerlebnis Tausender ihn als Messias verehrender Rastafarians in Jamaica steht) und Gewalt (in Form von Waffen, aber auch Hahnenkämpfen), von Segregation in Schwarz und Weiß, Arm und Reich, Bilder der Hoffnung (Independence Day) und von Flucht in den rituellen Kosmos afrikanischen und christlichen Zaubers. Andererseits sind es aber auch Bilder der landschaftlichen Idylle, Musik, Tanz und Karnevalsfreude, all den klischeehaften und gelegentlich dümmlichen Seiten der Tourismusindustrie, vor denen wir alle nicht gefeit sind – und die man wohl auch als die positive Seite der harten Münze gelten lassen muss. Das Buch beinhaltet zudem Bilder vom Leben der karibischen Bevölkerung im Exil in den USA, in Kanada oder England, wohin nicht wenige von ihnen auswanderten, um der Chancenlosigkeit ihrer engeren Heimat zu entfliehen. Aber das wäre schon Thema eines weiteren Fotobandes.
Avantgarde und Schlager
Gemeinsam mit dem Buch erscheint eine Doppel-CD desselben Titels und mit identem Cover (sowie Backcover). Was mit einem Bildband machbar ist, nämlich ein gutes Jahrhundert zu umfassen, wäre auf zwei CDs mit insgesamt eineinhalb Stunden Musik schwerlich möglich. Allein die enorme Anzahl karibischer Stile zwischen Rara und Reggae, Zouk und Compa, Son und Calypso (um einige wenige zu nennen), die sich zudem über die Jahre und Jahrzehnte ständig gewandelt haben, würde eine solche Compilation schwer konsumierbar machen. Also beschränkte sich der für die Auswahl verantwortliche Labelchef von Soul Jazz Records, Stuart Baker, im Wesentlichen auf die Zeit zwischen Mitte der Fünfziger und Anfang der Sechziger – was bei dem angebotenen Mix von Musik aus Trinidad, Jamaica, Haiti, Dominikanischer Republik, Bahamas, aber auch aus New York oder Panama gut funktioniert.
Man tut der Compilation wohl nicht unrecht, wenn man feststellt, dass es in erster Linie Musik für den kosmopolitischen Connaisseur ist, die im Vordergrund steht, was durchaus Vertreter der Avantgarde der damaligen Latin-Szene nicht ausschließt: Cachao Y Su Ritmo Caliente mit einem Song ihres klassischen Albums »Descargas« (1957) zum Beispiel oder Katherine Dunham mit »Nago« (aus dem Jahr 1946!), das einen Touch »Field Recordings« hat – aber eben auch genügend »Pop-Appeal«, um den Armchair- Traveller anzusprechen. Einige Songs können heute jedoch auch als »Schlager von anno dazumal« schubladisiert werden, sind aber bei aller Klischee-Befrachtung und glatter Produktion immer noch mit jenem ›Atzerl‹ des gewissen Etwas ausgestattet, dass sie nicht als billig abgetan werden können. Dieses Quäntchen Authentizität und Seriosität gilt auch für jene Songs, die knapp am Rustikalen vorbeischrammen, wie jene von Guy Du Rosier, dem man zwar keinen musikalischen wiewohl einigen politischen Opportunismus vorwerfen kann, was im ausführlichen Booklet zur CD nachzulesen ist.
Dort findet sich auch die eine oder andere interessante Anekdote: etwa zu den drei Songs von King Scratch und The Bay Street Boys. Wer mehr von diesen durchaus ambitionierten Musikern von den Bahamas erfahren will, wird enttäuscht werden. Denn sie sind aller Wahrscheinlichkeit nach die Erfindung des umtriebigen Produzenten D. L. Millar, der mit seiner Low-Budget-Serie von Supermarkt-kompatiblen Alben im karibischen Flair recht erfolgreich war. Wer also jene Calypsonians sind, von denen er auf dem Plattencover behauptet, »sie sind lange schon Publikumsfavoriten, und nicht wenige Touristen haben sich an ihren lebensfrohen und frei von der Leber weg gespielten Calypso- Rhythmen erfreut«, wird wohl auf ewig ein ungelöstes Rätsel bleiben. Millar, deutscher Herkunft, war jedenfalls auf der Höhe seiner Zeit – besagte Aufnahmen kamen, kurz nachdem Harry Belafonte mit »Matilda« in den Vereinigten Staaten einen Calypso-Boom losgetreten hatte, raus – und waren dessen Calypsos qualitätsmäßig zumindest ebenbürtig.
Buch: »90° Degrees of Shade. Over 100 Years of Photography in the Caribbean. Image And Identity in the West Indies« (Foreward by Paul Gilroy)
London: Soul Jazz Records 2014, A-Vertrieb Trost, EUR 25,-
2 CD: »90° Degrees of Shade. Hot Jump-Up Island Sounds from the Caribbean. Mambo, Calypso, Mento, Merengue, Cult and Compas Music«
Soul Jazz Records/Trost
Buchtipps
Guillermo Cabrera Infante: »Ansicht der Tropen im Morgengrauen«
(Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992)
Stephen Greenblatt: »Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker«
(Berlin: Wagenbach, 1994)