Mit dieser Zusammenstellung von 29 exklusiven Geräuschmusikbeiträgen feiert das Label Auf Abwegen seine 50. Veröffentlichung und präsentiert diese ebenso ansprechend wie informativ. Die zwei CDs sind in einem 82-seitigen Buch verpackt, das nicht nur Portraits der vertretenen Künstler_innen enthält, sondern ebenso eine kurze autobiographische Skizze zur Geschichte des Magazins, Mailorders und Labels Auf Abwegen, geschrieben von Label-Betreiber Till Kniola, und einen Essay zur Geschichte und Gegenwart von Geräuschen in der Musik bzw. Musik in den Geräuschen bzw. Geräuschmusik enthält. Dieser kurze, inhaltlich sehr dichte Essay, geschrieben von Johannes Ullmaier, ist beinahe schon die Anschaffung dieser uneingeschränkt empfehlenswerten Veröffentlichung wert – aber dann kommen ja noch die musikalischen Beiträge bzw. die Geräusche! Und die haben es in sich! Während der zweieinhalbstündigen Klangreise kann von Langeweile nicht die Rede sein. Ganz im Gegenteil: Die in Ullmaiers Essay aufgeworfene Frage, »wann zum ersten Mal ein Erdbewohner (nicht unbedingt ein Mensch) etwas erhorchte, was jenseits bloßer Funktionalität lag: etwa das Zarte im Windrascheln des Laubes, die Dynamik der Meeresbrandung, das Erhabene des Gewitterdonners, den Melos im Ruf eines anderen Wesens oder den Rhythmus des eigenen Herzschlages«, diese Frage beschäftigt nach dem Durchhören der Veröffentlichung umgehend, wenn die Kopfhörer beiseite gelegt sind und die so genannten Alltagsgeräusche (plötzlich?) wie Musik ans Ohr dringen. Der schöne und durchaus pädagogische Nebeneffekt dieser Veröffentlichung ist in diesem Sinne eine (Re-)Sensibilisierung der Ohren für das, was man alles hören kann, wenn man eben hinhört – auch bzw. gerade dann wenn keine »Musik« spielt!
Aber nun steht das Fazit vor dem eigentlichen Ende dieser Rezension und daher noch einmal einen Schritt zurück: Was kann man auf diesen zwei CDs alles hören? In Genrebezeichnungen gefasst: Eine abwechslungsreiche Mischung aus Noise, Industrial, EBM, Ambient, Drone, Sound-Art, Field-Recordings, Musique concrète, elektro-akustischer Komposition, Minimal Music usw. … Die durchaus sehr unterschiedlichen Einzelbeiträge lassen sich in der einen oder anderen Weise mit Hilfe eines oder mehrer dieser Begriffe einordnen. Damit ist aber der Fülle an akustischen Eindrücken nicht angemessen Rechnung getragen. Wie auch? In Anlehnung wiederum an Ullmaiers Essay lässt sich sagen, dass etwa Christoph Heemanns »Züge«, Limpe Fuchs’ »Dialog«, Gregory Büttners »Rückschritt« oder »Die Damenschneiderin« von Column One Genregrenzen nur kennen, »um sie zu überschreiten«. Die 50 »ausgewählte[n] Geräusche« – egal wie sehr sie historisch mit Referenzen aufgeladen sind oder werden können – verfallen nur selten in akustische Klischees oder bestimmte und bestimmbare »Totem-Sounds« (D. Diederichsen), wie sie in musikalischen Genres vorherrschen bzw. diese eben auch definieren. Die Musik/die Geräusche – wie man eben mag – klingen unverbraucht, anregend und hier und da meinetwegen auch etwas unheimlich, wie beispielsweise »Henry« von Core oder »Erwartung« von RLW, die sich auch in David Lynchs »Eraserhead« gut gemacht hätten. Aber – Obacht mit den (üblichen) Vergleichen! Sie nehmen die akustische Erfahrung vorweg und verstopfen die Ohren! (Sicher, das Kopfkino springt beim Hören dieser CDs umgehend an, aber welche Filme laufen werden, das kann offen bleiben!) Thomas Köners »Nunatak (Version)« könnte mit Adjektiven wie »meditativ« und »ruhend« beschrieben werden, doch zur Beschallung von Yogakursen oder Wellness-Oasen eignet sich die kühle Leere der fünfminütigen Komposition kaum. Obwohl, in derart beschallten Wellness-Oasen und Yoga-Tempeln ließe ich mich ggf. auch einmal blicken … Egal. Das Synthetische Mischgewebe wiederum kratzt und knistert elektrostatisch aufgeladen und kalauert: »Es klappert der Bach (J.S.) im Rausch«. Die Frage nach dem Humor in der Musik bzw. im Geräusch wird also erfreulicherweise auch gleich zustimmend mitbeantwortet. Und so geht es in einem fort, Minute um Minute verstreicht, Klänge unterschiedlichster Herkunft gehen zum einen Ohr hinein und hinterlassen im Hirn dazwischen eine Vielzahl von Eindrücken bevor sie zum anderen Ohr sprichwörtlich raus gehen. Wer neugierig darauf ist, sich einem breitem Spektrum an ungewöhnlichen Sounds auszusetzen, einer Klangästhetik, die sich nicht anbiedert und doch fesselt, der ist mit »Aufabwegen#50 – Ausgewählte Geräusche« bestens bedient. Beinahe nebenbei liefert die Veröffentlichung zusätzlich eine Einführung in die Musik als und mit Geräusch (Essay) und einen (vielleicht nicht kompletten, aber doch sehr umfangreichen) Ûberblick über eine Szene, die größtenteils im Verborgenen blüht – dafür aber um so schöner!