Filmstill »The Found Footage Phenomenon« © slash Filmfestival
Filmstill »The Found Footage Phenomenon« © slash Filmfestival

Found Footage beim slash Filmfestival 2024

Die Retrospektive beim diesjährigen slash Filmfestival steht im Zeichen eines Subgenres, das uns nicht erst seit »The Blair Witch Project« das Fürchten lehrt: Willkommen in der hyperrealistischen Schreckenswelt des POV-Cinema.

»The following is based on real events« steht am Beginn der Dokumentation »The Found Footage Phenomenon« von Sarah Appleton und Philip Escott (GB 2021) und das darauffolgende Zitat erklärt auch schon die Wirkungskraft dieses speziellen Horror-Subgenres: »When Found Footage is done well, it feels like you’re watching real people in real situations and that means that there are real stakes.« Found Footage macht den Horror auf der Leinwand hyperrealistisch und lehrt uns damit das Fürchten. Die Doku erkundet Ursprünge, Entwicklung, Spielarten und mögliche Zukunftsszenarien des Point-of-view-Cinema und lässt Filmschaffende zu Wort kommen, die vom Genre geprägt sind und es geprägt haben – von Ruggero Deodato, Regisseur von »Cannibal Holocaust« (IT 1980) über Eduardo Sánchez, Co-Creator von »The Blair Witch Project« (US 1999), bis zu Oren Peli, Jack of all trades hinter »Paranormal Activity« (US 2007).

Es gibt im Wesentlichen zwei Varianten des Found-Footage-Films. Das eine sind Low-Budget-Produktionen mit starkem DIY-Effekt, oft produziert von kleinen, unbekannten Filmemacher*innen oder Filmstudent*innen. Das andere sind üppig finanzierte Hollywood-Produktionen wie »Cloverfield« (US 2008), die sich des Found-Footage-Narrativs bedienen, auf technischer Ebene jedoch deutlich davon abheben, beispielsweise durch spektakuläre Action-Sequenzen oder aufwändige CGI-Bearbeitung. Während letztere durchaus unterhaltsame Kinokost bieten, können sie mit dem authentischen Horror von ersteren nicht konkurrieren. Denn was Found Footage so gruslig macht, ist das Gefühl, ein vermeintlich reales Filmdokument vor Augen zu haben, das Vermächtnis von Menschen, die verschollen und wahrscheinlich nicht mehr am Leben sind, ein filmisches Zeugnis von Geschehnissen, die glaubhaft echt wirken, weil sie mit Stilmitteln erzählt werden, deren Authentizität wir zu vertrauen gelernt haben.

Filmstill »Cannibal Holocaust« © slash Filmfestival

Wurzeln und Geschichte des Genres

Während man mit Found Footage heute vor allem Filme aus den letzten 30 bis 40 Jahren assoziiert, reichen die Wurzeln des Genres viel weiter zurück und sind nicht ausschließlich im Medium Film zu finden, sondern z. B. in Briefromanen wie Mary Shelleys »Frankenstein« (1818) oder Bram Stokers »Dracula« (1897), die auf »gefundenen« Tagebucheinträgen oder Briefen basieren. Dieses Narrativ wurde in frühen Horrorstreifen wie »Frankenstein« oder »Dracula« (beide US 1931) übernommen, konnte aber noch nicht adäquat aufs »neue« Medium Film übertragen werden. Dafür spielten andere populäre Medien mit den Mitteln der dokumentarischen Erzählweise, das bekannteste Beispiel ist hier wohl die CBS-Ausstrahlung von H. G. Wells’ »War of the Worlds« Radio-Hörspiel von 1938, das in der US-amerikanischen Bevölkerung für eine Massenhysterie sorgte.

Die 1960er-, 1970er und 1980er-Jahre waren geprägt von den News-Formaten dieser Zeit zwischen Kriegsberichterstattung aus Vietnam und Explorer-Videos aus entlegenen Dschungelgebieten, die sich in pseudodokumentarischen Streifen wie »Mondo Cane« (IT 1962), »Last Cannibal World« (IT 1971) und »Cannibal Holocaust« (IT 1980) niederschlugen. Letzterer gilt als »Godfather« des Found-Footage-Films, wie wir ihn heute kennen. Mit der fortschreitenden Entwicklung der Kameratechnologie und der daraus resultierenden zunehmenden Leistbarkeit und Verbreitung von Home-Camera-Equipment erfuhr das First-Person-Cinema ein Upgrade und verlagerte sich in den privaten Bereich – der Horror kam aus entlegenen Winkeln der Welt in die eigenen vier Wände … oder ins eigene Zelt. 

Filmstill »The Blair Witch Project« © slash Filmfestival

Die »neue Generation« des POV-Cinema

In den ausgehenden 1990er-Jahren erhielt der Found-Footage-Film durch die 100.000-US-Dollar-Produktion »The Blair Witch Project« (US 1999) einen unerwarteten Anstoß. Wesentlicher Bestandteil der »Blair Witch Experience« war das medienübergreifende Marketing, das sich auf die Website des Projekts konzentrierte und eine breite Online-Community aufbaute, durch die sich die Bekanntheit des Films um ein Vielfaches multiplizierte. Mit 250 Millionen US-Dollar Einnahmen zählt der Streifen zu den erfolgreichsten Genrevertretern der Filmgeschichte und zog eine Vielzahl von Nachahmern nach sich – in den USA, aber auch im internationalen Kino. Bedeutende von »The Blair Witch Project« beeinflusste europäische »Shockumentaries« sind beispielsweise »Trollhunter« (NO 2002) oder » [REC]« (ES 2007), die ihrerseits wieder das asiatische Kino beeinflussten, etwa »Norio: The Curse« (JP 2005) oder »Shirome« (JP 2010).

Generell sorgte die Entwicklung des Internets und die zunehmende Verbreitung von Handy-, Smartphone- und Web-Cams für frischen Wind im Found-Footage-Genre und neue, noch einfachere Möglichkeiten in der Produktion. »Paranormal Activity« (US 2007) wurde im Haus des Regisseurs mit statischen Kameras für 15.000 US-Dollar gedreht und markierte einen weiteren Höhepunkt des Genres. Das Marketing setzte auf Nachtsichtaufnahmen bei Testvorführungen des Films, verwendete »reaction shots« aus dem Publikum für den Trailer und vermarktete den Streifen damit als »one of the scariest movies of all time« – erfolgreich. Der Film spielte 193 Millionen US-Dollar ein und zog wie zuvor schon »The Blair Witch Project« ein umfassendes Franchising nach sich, mit sechs Sequels bzw. Spin-offs, einem Comic, mehreren Videospielen und einem Dokumentarfilm. 

Programm-Highlights und eine Weltpremiere

Jedes Mal, wenn eine neue Technologie auftaucht, zieht das Genre mit, sei es »Found Footage 3D« (US 2016) oder digitale Formate wie Live-Streams und Video-Calls, die sich in den Stilmitteln neuer Filme widerspiegeln. Man kann also davon ausgehen, dass aktuelle technische Entwicklungen wie Deepfake oder AI im Found-Footage-Film der kommenden Jahre eine wesentliche Rolle spielen. Die Szenarien reichen dabei von True Crime und »Snuff Films« bis zu Folk & Religious Horror, von Ghost & Gore bis zu Monster Movies und SciFi Thrillern: Es ist für jeden Geschmack etwas dabei. Wohin das Found-Footage-Phänomen sich in Zukunft entwickelt, ist schwer zu sagen, aber der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt und eines ist sicher: Found Footage has come to stay.

Einige Glanzstücke des Found-Footage-Genres sind in den kommenden Tagen bei der Retrospektive im Rahmen des diesjährigen slash Filmfestivals zu sehen, allen voran die hier zitierte Dokumentation »The Found Footage Phenomenon« und genannte Beispiele wie »Cannibal Holocaust«, »The Blair Witch Project«, » [REC]«, »Troll Hunter« und »Noroi: The Curse«. Ergänzt wird das Programm um Found-Footage-Filme neueren Datums wie z. B. »Hostile Dimensions« (GB 2023) oder »Solvent« (AT 2024) von Regisseur Johannes Grenzfurthner, der beim slash 2024 seine Weltpremiere feiern wird. Wir wünschen gutes Gruseln!

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