Das Motto des diesjährigen Viertelfestivals NÖ »Sichtweise« soll das Bewusstsein schärfen, nicht eindimensional wahrzunehmen, sondern die Perspektive zu wechseln, um ein besseres Verständnis des lokalen bzw. Weltgeschehens zu erlangen. Missverständlich könnte man dabei im Titel »LEIHarbeiter*in – Fabriksarbeit und Leben in Klein-Neusiedl« den Begriff Leiharbeit interpretieren. Am 28. Juni steht im Atelier Steinbach in der Alten Papierfabrik in Klein-Neusiedl der Wert der Arbeit zur Diskussion. Der Clou: Die im Zuge des Projekts entstandenen Bildmaterialien können anschließend von Gemeinden, Schulen, Wirten etc. kostenfrei entliehen werden, damit die Geschichte der Arbeiter*innen der Region auch andernorts erzählt werden kann.
Es geht also nicht um moderne Leiharbeit, wo zwischengeschaltete Firmen viel Geld mit Arbeitskräfterekrutierung erwirtschaften, sondern um das Verborgen von Bildmaterialien, damit beispielsweise Schulen anschaulich machen können, wer die Menschen waren, die in der ehemaligen Papierfabrik in Klein-Neusiedl geschuftet haben. Ein Historiker*innenpaar begab sich auf kommunale Spurensuche, um Kinderarbeit, Entlohnung, das dörfliche Leben um die Fabrik herum und vieles mehr für die heutige interessierte Nachwelt zu erforschen. Für die Malerin Hermine Steinbach-Buchinger diente dies als Ausgangsbasis für die In-Szene-Setzung von Schautafeln und Gemälden.
Einen anderen, spektakulärer aussehenden Weg im Umgang mit verblichener Industriearchitektur pflegt Aaron Beck. »Eiserne Seele – Formen der Stahlstadt« sind an fünf verschiedenen Orten in Ternitz zu findende Installationen, die exquisit nur aus dem Material Stahl bestehen: »Jede Installation ist eine kunstvolle Stahlkonstruktion, die auf Stahlplatten geätzte Bilder von Ternitz und Porträts seiner Menschen aus Vergangenheit und Gegenwart zeigt.«
Verwunschene Orte
Wie gefährdet der Bestand an einst Ortsbilder bestimmenden Industriegebäuden ist, zeigt die Doku »Aus dem Blick einer Ruine« die am 7. Juli um 18:00 Uhr im VAZ Pitten Auf der Schmelz gezeigt wird. Hauptdarsteller*innen sind Personen, welche in den leerstehenden Wüsterhallen arbeiteten bzw. in Arbeiter*innenwohnungen oder dem Zinshaus der Fabrik aufgewachsen sind. Manfred Schreibstock betrieb darin sein Kulturprojekt Loftlinx und leider verfällt auch die benachbarte Villa W. Coulon am Rand von Pitten.
Verwunschene Orte, die sich aufgrund ihrer prächtigen Architektur einen Reiz bewahrt haben, gibt es auch in Kaltenleutgeben, ehemals kaiserliches Jagdgebiet, Kurstätte und Schigebiet der Wiener Haute Volée, Zementindustrieort, ist heutzutage eher als verschlafene Wienerwaldtalansiedlung, von wo die Bewohner*innen nach Wien pendeln, bekannt. Allerdings sind dort nicht wenige stattliche Häuser gut erhalten. Unter dem Motto »Sprechende Villen – Steinerne Zeuginnen erzählen« wird mittels interaktivem Theater, Literatur, Musik, visueller Gestaltung, historischen Tonaufnahmen, Performance und Tanz der Bogen von einer teils mysteriösen Vergangenheit in die (klein)bürgerliche Gegenwart gespannt. Auf nach Kaltenleutgeben, ins Ortszentrum, am 6. Juli von 10:00 bis 18:00 Uhr.
Immerhin in großen Teilabschnitten noch vorhanden ist der Wiener Neustädter Kanal. Dieses Industriedenkmal zeugt vom Aufbruch in die Moderne, die Bau- und Nutzungshistorie ist von Brüchen geprägt, von Pleiten und Bauwiederaufnahmen. Ein Synonym für die Industrialisierung anfangs des 19. Jahrhunderts. Im Kulturtreffpunkt Laxenburg, Schlossplatz 17, wird vom 14. bis 28. Juli der neueste Schrei berücksichtigt. KI wurde von einem Künstler*innengremium beauftragt, mit dem Stichwort »Wiener Neustädter Kanal« verschiedene Projektideen zu formulieren. »Intelligente Kunst am Kanal – Transportwege der Netztechnologie«, diese Produktion des Theaterverein Meyerhold Unltd. mit Wechselstrom wird in Form einer Ausstellung mit sarkastisch Hyperrealem, einer ironischen Überzeichnung aufwarten.
Erlebniswelten
Die kulturelle Umnutzung von Fabriksgebäuden, die früher auch einen ästhetischen Mehrwert hatten, bewahrt diese dankenswerterweise vor dem Verfall und letztendlichem Abriss. Neben Wels hat beispielsweise auch Wiener Neustadt einen Alten Schlachthof. Dieser fungiert für das Viertelfestival Niederösterreich als StreetArt Galerie, wo Nachwuchskünstler*innen neue Werke schaffen und nach der Vernissage am 29. Juni sogar bis Ende August ausstellen können. Das Areal lädt zum Flanieren ein, über die Kaffeerösterei bis zu einem Gemeinschaftsgarten und zurück geht’s durch die mit Backsteinwänden gesäumte Allee.
Einblicke in etwas andere Erlebniswelten gewährt die Ausstellung »Eine Frage der Sichtweise – Art Brut aus dem Piestingtal« am 13. Juli im Schloss Bad Fischau-Brunn samt Workshop. Wie sehen Menschen mit Handicaps die Welt, wie drücken sie ihre Empfindungen in ihren Werken aus? Die Artists der Forum Logos Gruppe der Eltern- und Solidargemeinschaft Wege zum Wohnen ermöglichen wöchentlich gemeinsame künstlerische Werkproduktion, reichend von Grafik und bildender Kunst bis Sprache und Musik.
Ebenfalls In Bad Fischau-Brunn kommt am 27. Juni »Die Klimakrise vor der Haustür« an, im Projekt »Anhydros«. Schauplatz ist der Brunner Teich, das Schwimmbad in Brunn, Thema die Trockenheit. Auszug aus dem Programm: »Aus für den Poolbau verwendeten Materialien entsteht eine Installation mit überdimensionalen Umrissen von im Wasser lebenden Einzellern, und großformatige Kunstwerke – Aufnahmen von vertrockneten Pflanzen und leeren Bachläufen auf Bannern – zeigen die regionalen Auswirkungen des Klimawandels«. Intention ist ein Ausblick in die Zukunft, ein Hineindenken in Orte, die infolge der Klimakrise ihre ursprüngliche Funktion verloren haben oder verlieren werden.