Bevor im Herbst wieder die unsägliche Wiener Kaiser Wiesn das Münchner Oktoberfest krachledern und dirndlig nachahmen wird, kommt das Wahre und Schöne bereits im Wiener Kultursommer zur Blüte. Zum Start werden auf ebendieser Kaiserwiese die Wiener Symphoniker am 29. und 30. Juni jeweils um 19:30 Uhr zu einem Gratis-Picknick im Prater aufspielen. Mit Voodoo Jürgens als Gaststar wird der Wiener Weltausstellung von 1873 Tribut gezollt. Groß dimensioniert sind am 15. Juli um18:30 Uhr auch ein Blasmusikabend am Rathausplatz und am 16. Juli ebendort zur selben Beginnzeit ein Chorabend mit Groove-Chor, Fem Chor, TU Wien Chor und Pop Chor Wien.
Kulturelle Nahversorgung
Meistens aber verbürgt die Bestimmung der Veranstaltungsorte die Versöhnung von Natur und Kultur. Von Transdanubia (Mühlschüttelpark, Schrödingerplatz) über den Brigittenauer Mortarapark, den Währinger Park, den Ottakringer Kongreßpark und den Reithofferpark in Rudolfsheim-Fünfhaus bis in den Süden (Simmeringer Herderpark, Wasserturm Favoriten, ASK Platz in der Liesinger Meischlgasse) werden »gmahde Wiesn« vorzufinden sein. Sonnenklarerweise steht a gmahde Wiesn jargon-sinnbildlich auch dafür, dass neugierig Gebliebene eine große Auswahl vorfinden und wegen des freien Eintritts hoffentlich auch zu den weniger bekannten Acts strömen werden.
Geboren wurde der Kultursommer Wien infolge der Corona-Pandemie aus der Idee heraus, in Wien lebenden Menschen, die nicht in den Urlaub fahren können, barrierefrei ein dezentrales und diverses Kulturangebot anzubieten sowie Künstler*innen eine Auftrittsplattform mit fairer Bezahlung zu ermöglichen. Kurator*innen für Kabarett, Literatur, Musik, Performance, Tanz, Theater und sogar zeitgenössischer Zirkus sorgen für einen interessanten Querschnitt mit hohem Frauenanteil.
Zusätzlich gibt es ein Programm für junges Publikum, jeweils vormittags von 10:30 bis 11:30 Uhr. Beispielsweise präsentiert am 3. August das Chaos String Quartett im Wasserturm Favoriten den »Gestiefelten Kater«. Außerdem werden Mitmach- und Kunstworkshops angeboten, ein Zeichen für die vermehrte Ermöglichung von Partizipation. Herausragend etwa Mariyam Maliks Linol-Workshop zum Thema »Dekoloniale & queerfeministische Stadt/Utopien«.
Horizonterweiterungen
Der faltbare Programmüberblick des Kultursommer Wien 2023 ist ein lohnender Wegweiser und fürwahr eine Fundgrube. Daraus lassen sich literarische, musikalische und einige weitere Horizonterweiterungen mehr ableiten. Weshalb der Autor dieser Zeilen gern auch seine Vorlieben in seine Querfeldein-Empfehlungen einfließen lässt. So lohnt sich am 30. Juli ein Besuch des Simmeringer Herderparks, wo Pamelia Stickney um 18:30 Uhr ihr Solo Theremin Orchestra selbstredend mit ihren eigenen Händen dirigieren wird.
»Leise höhnen meine Lieder«, welch’ Vorfreude! Am 6. August wird The Alan Schuberth Popržan Experience um 20:00 Uhr im Herderpark loslegen. Dahinter steckt ein verwegenes Paar. Die Bratschistin Jelena Popržan ist keineswegs maulfaul und Richard Schuberth zählt zu den schonungslos wortgewaltigsten, um Sarkasmus nicht verlegenen Schriftstellern Österreichs, weswegen auch zu Recht der Hashtag #Schuberthiade neben den weiteren #MusikalischeLesung und #Lyrik steht.
Bereits am 6. Juli werden ab 18:30 Uhr im Rahmen des literarischen Gemeindebausalons Lobmeyr, der sein neues Projekt »Friederike-Mayröcker-Haus für Literatur« präsentiert, Ljuba Arnautovic, Gabriele Kögl und Tanja Paar im Währinger Park lesen. Danach, ab 20:00 Uhr wird zunächst Gloria Damijan zwischen Improv, Klangkunst und Performance oszillieren, ehe Ursula Winterauer aka Gischt, Elektronikmusikerin und Produzentin sowie Co-Gründerin von Ventil Records, und Sara Zlanabitnig, forschende Flötistin und Mitbegründerin der Plattform Fraufeld, im Duo improvisieren werden.
Global Sounds
Überhaupt müsste mensch sich an diesem 6. Juli vierteilen, weil im Wasserturm Favoriten sterzinger V ab 18:30 Uhr »leise im kreise« Jazz auf Lyrik rotieren lassen und hernach Yasmo & die Klangkantine aufgeigen werden. Auch nicht zu verachten an diesem eigentlichen Kultursommer-Wien-Eröffnungstag am Schrödinger Platz im Bezirk Donaustadt: das Diknu Schneeberger & Christian Bakanic Quartett, das sich erquicklich an Roma Jazz abarbeiten wird.
Das Faible für erlesene Global Sounds führt am 5. August ebenso nach Transdanubien. Um 20:00 Uhr spielt am Schrödingerplatz das Ensemble Musical Souvenir ein Konzert mit ukrainischer Musik, während tief im Süden Wiens am 10. August um 18:30 Uhr Quetsch’n’Vibes mit steirischer Ziehharmonika, Vibraphon, Marimba und obskureren Instrumenten Märsche und Polkas ebenso drauf haben werden wie exotische Tänze, die gut zum Fußballplatz des ASK Erlaa in der Meischlgasse passen.
Experimentelleres folgt am 14. Juli, um 18:30 Uhr: Anna Anderluh, Lukas Aichinger und David Gratzer werden unter dem vielsagenden Decknamen Enfleurage agieren. Wenige Tage später, am 20. Juli um 20:00 Uhr, wird das grandiose Orwa Saleh Ensemble einen Streifzug durch orientalische Musiklandschaften kredenzen. Und W1ZE & The Cutie P1ze werden am 12. Juli zu einem queeren Trap-Pop-Abend beim ASK vorbeischauen. Für schaurigen Austropop wird Paul Plut am 23. Juli um 20:00 Uhr im Floridsdorfer Mühlschüttelpark sorgen, wo tags darauf um 18:30 Uhr die Salon-skug-erprobten Mermaid & Seafruit gastieren werden. Enesi M. haben wir auch bereits im Salon skug vorgestellt: Ihre Live-Show wird im Reithofferpark über die Bühne gehen, und zwar am 28. Juli um 20:00 Uhr.
Vergangenheitsbewältigung
Auch dort regiert Weltoffenheit, auch in Sachen Historie, wo Werkelmann Oliver Mahr am 15. Juli um 18:30 Uhr mit Drehorgeln und Lochkartenmusik alte Wienerlieder Revue passieren lässt. Unter dem Motto »Fremde Nähe, nahe Fremde« werden am 3. August um 18:30 Uhr im Ottakringer Kongreßpark die gebürtige bosnische Sängerin Nataša Mirković und die Romanautorin Karin Peschka ein Lehrstück in Sachen Geschichte geben. Peschka wird aus ihrem Roman »Džomba« lesen, der ein Erster-Weltkrieg-Gefangenenlager im oberösterreichischen Eferding, in dem 5.362 Serben und Tausende weitere, meist Osteuropäer, begraben sind, dem Vergessen entreißt.
Rückkehr in den Wasserturm Favoriten, der seine historische Funktion, die Bevölkerung mit Wasser zu versorgen, längst verloren hat: Was nach dem Ersten Weltkrieg als Königreich Jugoslawien entstand, ist durch die nationalistischen Kriege in den 1990er-Jahren unwiderruflich zerstört worden. Künstler*innen, die nie die Frage nach der Ethnie stellen, lassen Titos blockfreien Staat in gewisser Weise fortleben. So auch Nikolaj Efendi, der am 3. August und 18:30 Uhr »TripHop in jugoslawischen Wurzeln panieren wird«.
Auch Sakina Teyna wird am Freitag, dem 14. Juli um 18:30 Uhr ein denkwürdiges Konzert geben. Teyna kämpfte mit den Peschmerga gegen die Unterdrückung der kurdischen Minderheit, die in der Türkei mit Sprachverbot zur Assimilierung gezwungen wird. Seit 2006 lebt sie als politischer Flüchtling in Österreich und kann als kurdisch-alevitische Sängerin ihre Musiktradition, die sie erst beim Studium kennenlernte, pflegen. Sakina & Friends heißt ihr Ensemble, das gern traditionelle Lieder mit jazzigen Arrangements modernisiert.